Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Wer kennt nicht Pinocchio? Er ist geradezu das Urbild kindlicher Helden, die zwecks Erziehung und Unterhaltung der Kleinen erfunden wurden. Die message: Lass das Lügen, es kommt eh raus. Denn dem Lügner wächst eine lange Nase, und so oft er sich auch daran greift, sie verschwindet nicht, bevor er nicht mit der Wahrheit herausrückt. Carlo Callodi hat mit diesem sympathischen Helden die Kinder und Eltern des ausgehenden 19. Jahrhunderts unterhalten – 1881 als Fortsetzungsgeschichte unter dem Titel Le Avventure Di Pinocchio: Storia Di Un Burattino (Geschichte eines Hampelmanns), woraus 1883 dann das Buch Le avventure di Pinocchio wurde.
Seither hat Pinocchio nicht nur unzählige Kinder in aller Welt, sondern auch viele Autoren, Puppenspieler und -schnitzer, Filmemacher, Schauspieler, Theaterleute, Komponisten inspiriert. Er ist wahrhaftig unsterblich.
Auch in unserer Athener Wohnung hängt er:

Mein Mann erwarb ihn einst in Palermo.

Dora, der Jahresgenius von 2022, liebte ihn besonders.

Pinocchio mit Dora, dem Jahresgenius von 2022
Auf Wahlzetteln, die ich mit nach Hause nahm, fand er seinen höchst passenden Platz.

Der russische Schriftsteller Alexei Nikolajewitsch Graf Tolstoi (1882-1945) hat den Stoff 1936 aufgegriffen, aber den kleinen Kerl ganz anders interpretiert. Und ich muss sagen: diese Geschichte gefällt mir noch viel besser als das Original. Denn Pinocchio hat seine lange Nase gar nicht durchs Lügen, sondern durch einen Schnitzfehler des „Papas“ erhalten. Und am Ende seiner Abenteuer erhält er von der Schildkröte den verloren gegangenen goldenen Schlüssel zu einer geheimen Tür, die den Raum zu einer freien Puppenbühne öffnet, die nicht unter der tyrannischen Gewalt des Oberpuppenspielers Karabas Barabas steht und ihm und seinen Freunden ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung ermöglicht.
Dieser „Burattino“ von Alexej Tolstoi (nicht zu verwechseln mit Leo Tolstoi) ist in Russland immer noch sehr populär. Vier mal, in den Jahren 1939, 1959, 1975 und 2009 wurde seine Geschichte auf russisch verfilmt. Sein Ebenbild schmückt viele Stätten des alten Russland, des ehemaligen Sowjetreiches und der neuen daraus hervorgegangenen Staaten, so auch vier Orte in Kiev. In ganz Osteuropa (auch in Athen) gibt es Cafes, Theater, Bars mit seinem Namen, und 1992 hat sogar eine Briefmarke bekommen.
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Über den Autor kann man bei Wikipedia wenig Schmeichelhaftes nachlesen. Es ist die Biografie eines Mannes, der erst die Weisrussische Armee gegen die Bolschewiki unterstützte, dann ins Exil ging, sich später mit der sowjetischen Führung arrangierte und kollaborierte. Die Gestapo führte ihn zusammen mit Stalin auf der Hauptliste der Feinde des Deutschen Reichs. Von seinen literarischen Werken geblieben ist vor allem die Geschichte von „Pinocchio mit dem goldenen Schlüsselchen“. Und das ist ja immerhin auch nicht wenig.
Schöner Post! Ich vermisse Dora sehr!
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Ich freu mich immer sehr, wenn du deine Sympathie für Dora äußerst! Das ist auch ein Grund, warum ich sie immer mal wieder auftreten lasse – nun als Reminiszenz.
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Über das Lügen selbst schriebst Du nichts.
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Es geht mir hier ja vor allem darum herauszufinden, was mir zu jedem Wort an Assoziationen kommt aus der Literatur, Politik oder Kunst. Also nicht darum, was ich selbst zu dem Thema sagen würde. Und bei Lügen fiel mir halt der Pinocchio ein.
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Ich mochte ihn immer sehr, den Pinocchio mit seiner langen Nase.
Am Samstag habe ich leider auf einem Schülerflohmarkt ein wunderschönes Werk über Pinocchio wieder aus der Hand gelegt, statt es für wenig Geld mitzunehmen und zuhause genauer anzusehen. Die Zeichnungen darin waren ganz zauberhaft.
Daß es noch einen Pinocchio von Alexei Nikolajewitsch Graf Tolstoi gab, wußte ich gar nicht.
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Ich wusste es auch nicht, las es erst jetzt.
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Diese Geschichte wird vielleicht noch weiter entschlüsselt, aufgeschlossen, durch Dora vielleicht? 🔐🔑
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