112 Stufen, 40: Trauma (Gerda Kazakou)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

„Trauma“ ist ein griechisches Wort und bedeutet „Wunde“. Die griechische Mythologie ist reich an Helden, die an einer schweren Wunde leiden und nicht sterben können. Diese Wunden werden freilich rein körperlich aufgefasst. Erst die neuere Psychologie erforscht die verwundete Seele „als solche“.

Baum-Wunde

Als fürchterliches Beispiel eines Traumas erwähnt sei der griechische Held Philoktet, der sowohl auf der Argo mitfuhr, um das Goldene Vlies aus Kolchis zu rauben („heimzubringen“), als auch zur Belagerung von Troja aufbrach, aber nach einer bösen stinkenden Verwundung verraten und auf einer Insel ausgesetzt wurde. Erst als der Krieg ohne ihn nicht zu beenden war, erinnerte man sich seiner. Sein Leiden wurde in späteren Jahren immer wieder zum Thema der Maler und Dichter, so Sophokles (hier) oder auch Heiner Müller (hier).

Bild des Philoktetes von Germain-Jean Drouais, um 1786

Philoktet war es gewesen, der sich traute, den Holzstoß anzuzünden, den Herakles geschichtet hatte, um sich selbst darauf zu verbrennen. Alle anderen wichen zurück. Warum aber wollte Herakles sich selbst verbrennen? Weil auch er ein Verwundeter, ein Verbrennender war, der nicht sterben konnte. Darf ich ein wenig erzählen? Die folgende Unterhaltung findet in meinem Romanfragment „Schwanenwege“ in einem Lokal bei Genua statt, dessen Spezialität Perlhühner (Numida meleagris) sind.

***

….Elisabeth schaute zwischen zwei Bissen missbilligend auf ihre Kinder. Wie Harald sich benommen hatte, ganz ungehörig! Auch Gises Verhalten ließ zu wünschen übrig, wie sie kicherte und errötete, während ihr alter Freund sich – ungeachtet ihrer Sorgen – über diese lächerlichen Geschichten von einer Mutter verbreitete, die ihren Sohn umbringt. Ein bisschen geschmacklos war er ja immer schon gewesen, der gute Antonio.

Dieser ging unterdessen den Verzweigungen des Mythos weiter nach: „Es wird erzählt, dass Herakles, als er in die Unterwelt hinabstieg, um den Höllenhund zu holen, als erstes auf den Geist des Meleager traf. Die beiden kannten sich gut, denn Herakles hatte Meleagers Schwester Deianeira ein Heiratsversprechen gegeben: ‘Ich möchte dich an dein Versprechen erinnern’, sagte der Geist des Meleager. ‘Kümmer dich bitte um sie! Sie weint sich die Augen aus, weil sie dich für tot hält’“.

„Diese Schwester lebte also und wurde kein Perlhuhn?“ fragte Gise und kicherte nervös.

Herr Salieri lachte anerkennend: „Gut aufgepasst, Gise! Nein, diese Schwester blieb verschont. Sie war sogar sehr schön. Herakles heiratete sie wie versprochen – und besiegelte damit sein Schicksal.“

„Wieso?“ fragten Gise und Elisabeth gleichzeitig in die Pause hinein, die Herr Salieri kunstvoll eingelegt hatte.

„Was heißt hier: er besiegelte sein Schicksal?“ forschte Elisabeth. Der Wein hatte ihre Wangen gerötet, und ihre Augen glänzten fiebrig. „Ist die Ehe denn so etwas Schlimmes?“ Sie würde nie vor Antonio und den Kindern zugeben, dass sie genau das dachte: Damals, als sie Nils heiratete, hatte sie ihr Schicksal besiegelt.

„Wollt ihr wirklich die ganze Geschichte hören, meine Lieben? Kein Happyend a la Hollyood, leider..“

„Schlimmer als die mit Meleager wird sie schon nicht werden,“ meinte Gise zuversichtlich.

„Glauben Sie? Die Griechen waren unerhört einfallsreich, wenn es darum ging, kunstreich tragische Knoten zu knüpfen. Aber hören Sie selbst:

Es begann mit der Hochzeitsreise von Herakles und Deianeira. Das junge Paar musste unterwegs einen breiten Fluss überqueren. Als Fährmann war dort ein Zentaur namens Nessos tätig. Ihr wisst, was ein Zentaur ist? Gut. Also, die junge Frau setzt sich auf Nessos’ Rücken und lässt sich von ihm hinübertragen. Nessos gefällt seine reizende Last so sehr, dass er, kaum erreichen  sie das andere Ufer, mit ihr auf und davon galoppiert. Herakles schickt ihm einen seiner vergifteten Pfeile hinterher und trifft ihn. Sterbend flüstert Nessos der schönen Deianeira ins Ohr: ‘Tauche dein Tuch in meine blutende Wunde und mach eine Salbe daraus. Wenn Herakles dir einmal untreu wird, bestreiche damit sein Gewand, und du gewinnst ihn sicher zurück.’“.

Herr Salieri hatte diese Sätze so dramatisch in Gises Ohr geflüstert, dass diese, beschwipst von Wein und Übermüdung, aufgeregt gackerte: „Eine Liebessalbe!“

„Ja, Gise, das glaubte auch Deianeira. Und da sie bald Grund hatte, an Herakles’ Treue zu zweifeln, präparierte sie ein Untergewand mit der Salbe – und o weh: Herakles zog es an!“

Hier machte Herr Salieri wieder eine Kunstpause und blickte, die Augenbrauen über den hellblauen Augen dramatisch  hochgezogen, in die Runde.

„Na, und weiter?“ konnte Harald sich nicht enthalten zu fragen.

„Ach, Harald, die Frauen! Ihre Eifersucht ist uns Männern gefährlich! Das Gift seines eigenen Pfeils – es stammte vom Blut der Hydra, der er in einem früheren Abenteuer die Köpfe abgeschlagen hatte – kehrte über Nessos’ Wunde zu ihm selbst zurück und brachte ihn um. Das Hemd brannte sich nämlich in seine Haut ein. Unmöglich es zu entfernen. Herakles litt Höllenqualen. Um sie abzukürzen, ließ er einen Scheiterhaufen schichten, wie man ihn für die Toten machte, und ließ sich hinauftragen. Dann befahl er, den Holzstoß anzuzünden. Doch ehe er verbrannte, entführten ihn die Götter in die Unsterblichkeit.

Und was tat die Schwester des Meleager, die schöne Deianeira? Sie erhängte sich aus Gram über den Tod ihres Gatten.“

….

***

Und was wurde aus Philoktet? Herakles vermachte ihm wegen der Hilfe bei der Selbstverbrennung seinen Bogen und die vergifteten Pfeile. Drum galt er auch als unverzichtbar für den trojanischen Feldzug. Doch unterwegs wurde er von einer Schlange in den Fuß gebissen, die Wunde schwärte und stank fürchterlich, und der Held schrie Tag und Nacht vor rasenden Schmerzen. Die Genossen setzten ihn, um sein Geschrei nicht länger zu hören, auf der Insel Lemnos aus.  Als der Krieg sich hinzog und nach zehn Jahren immer noch nicht vorbei war, erinnerten sie sich an den Ausgesetzten und die Weissagung, dass nur mit den Pfeilen des Herakles der Krieg zu gewinnen sei. Die Geschichte, wie es gelang, den schwer kranken Philoktet zu bewegen, den verräterischen Genossen zu helfen und wie er geheilt wurde, will ich nicht auch noch erzählen. Jedenfalls erschoss er schließlich den trojanischen Prinzen Paris mit einem der vergifteten Pfeile. Sein Lohn für die Heldentat: 7 trojanische Jungfrauen und auch sonst noch allerlei Hübsches.

Er blieb, scheint es, trotz seiner Leidenserfahrung auch danach seinem kriegerischen Beruf treu, gründete aber auch Städte in Unteritalien und widmete schließlich die vergifteten Pfeile dem Apoll. Ob es diese mit dem Gift der Hydra* durchtränkten Pfeile des Sonnengottes oder der Ungeist des Krieges sind, die heute die Erde verbrennen, weiß ich nicht zu sagen. Vielleicht sind sie ja ein- und dasselbe.

*hydr-, gr. ὕδωr ist eine proto-indo-europäische Wurzel und bedeutet feucht, nass, Wasser. Herakles tötete die Hydra = er legte Sümpfe trocken. Im Deutschen als Hydraulik, Hydrat, Hydrolyse, Hydrografie, Hydrologie, hydrophil, hydrophob etc

 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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3 Responses to 112 Stufen, 40: Trauma (Gerda Kazakou)

  1. Und sogar Salieri – nicht etwa der, den man immer mit dem Mozart in Verbindung bringt? – tritt auf!
    Ja, die Wunden, die nicht heilen wollen, nicht heilen dürfen (zur Not sorgt ein Adler oder Geier dafür wie beim im Kaukasus angeketteten Halbgott (die Höhle des Prometheus ist in Georgien zu besuchen, nur das Schafsfell von damals haben wir nicht gefunden, aber das nahmen ja die Argonauten mit). Sie sind häufig und wer bei sich sucht, findet eine solche. Meist eher im Seelenleben als äußerlich und gut sichtbar, aber auch die gibt es. Offene Beine (ob der gute Phil in Wahrheit an Diabetes litt?) und anderes, was von Übel ist. Zum Glück ist unsere Medizin in vielen Bereichen fähig, Leiden lindern zu helfen. Auch seelische! Aber vor allem braucht es die Bereitschaft des Betroffenen, diese Schwäche, diese Wunde anzuerkennen und nach Heilung zu verlangen, denn mancher ignoriert oder verleugnet sie, mancher integriert sie und mag nicht mehr auf diesen Teil seiner Person, egal, wie arg er und andere darunter leiden, verzichten.

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      In meinem Roman haben die Figuren archetypisches Gepräge, und so ist es kein Zufall, dass dieser Roman-Komponist den etwas anrüchigen Namen des Mozert-Bekannten trägt. Zu deinen psychologischen Ausführungen nicke ich mit dem Kopfe. Ja ja, ohne die Bereitschaft der „Betroffenen“ kann auch der Arzt nicht helfen. Ob er bei bestehender Bereitschaft helfen kann, ist auch noch die Frage. Am Ende kann sich jeder nur selbst helfen – oder eben auch nicht.

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      • Ärzte lernen, was ohne Frage in der Notfallmedizin hilfreich ist, zu entscheiden, Entscheidungen abzunehmen. Sie könnten von Psychologen, Sozialarbeitern etc. lernen, dass es zeitraubend, aber hilfreich sein kann, den Patienten entscheiden zu lassen. Ihm wichtige, sachliche Impulse zu setzen wird immer erforderlich sein, aber das gilt ja auch für die anderen Professionen. Denn letztlich geht es in hohem Maß um Hilfe zur Selbsthilfe, ganz recht.

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