Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Das erste große Epos von Homer, die Iliada, beginnt mit dem „Zorn des Achill“, im zweiten Epos wird Odysseus durch den „wütenden Poseidon“ zehn Jahre lang übers Meer getrieben. Wut/Zorn ist die Kraft, die die Geschichte in Gang setzt. Das griechische Wort für Zorn ist οργή, (orge), das du in anderen Zusammenhängen kennst – als Orgasmus und Organismus, Organ, organisch und Organisation… Wilhelm Reich entdeckte eine „Lebenskraft“, die er Orgon nannte.
Achills Zorn lässt sich besänftigen, denn er ist ja nur ein Mensch (nun ja, auch ein Halbgott), die Wut des Gottes Poseidon aber ist unerbittlich, abgrundtief, gefährlich, tödlich. Und was ist der Grund, Anlass oder Auslöser für Poseidons Wut?

Die Tat eines listenreichen Menschen, Odysseus genannt. Der stach Poseidons Sohn,dem Zyklopen Polyphem (dem „Weitberühmten“), sein großes leuchtendes kreisförmiges Auge aus und machte sich dann mit seinen Genossen auf die Flucht. Der Schlauberger verbarg seinen Namen – er nannte sich κανένας / niemand, und als Poseidon seinen jammernden Sohn fragte, wer ihn so zugerichtet habe, schrie dieser: „Niemand hat es getan!“
Poseidon aber kennt seine Pappenheimer, und er war sehr sehr ergrimmt, so ergrimmt, wie nur er es vermag. Er, der Erderschütterer, der das Meer in Aufruhr versetzt und die Erde beben lässt, blieb unversöhnlich. Bis zuletzt verfolgte er den beklagenswerten Odysseus. Um zur Ruhe zu kommen, so erzählt man, sei er von Ithaka aufs Festland übergesetzt und so weit gegangen, bis man das Ruder seines Bootes für einen Dreschflegel hielt, weil man noch nie etwas vom Meer gesehen und gehört hatte. Dort hauchte er schließlich seine Seele aus.

Ich habe diese Geschichte (auf die Gegenwart bezogen) in zwei Legebild-Leporellos erzählt. Bei Interesse findest du sie unter dem Stichwort „Die Heimkehr des Odysseus“.
Natürlich ist Poseidon viel größer, als ihn die Odyssee erscheinen lässt. Seine Wut ist eben nur eine seiner vielen Eigenschaften – freilich seine gefürchtetste.

aus der Ausstellung „Odysseen“ im Archäologischen Nationalmuseum Athen, 2017
Poseidon auf dem Bild aus dem Nationalmuseum hat ein paar körperliche Einschränkungen, die einen Menschen sehr, einen Gott vielleicht nicht in seinem Tatendrang hemmen. Er erinnert aber so an einen anderen Unversöhnlichen, Käpt’n Ahab.
Fing seine Wut nicht schon früher an? War er nicht ein Verbündeter der Trojaner und hat nicht Odysseus vor der Abreise nicht das rechte Opfer gebracht?
Aber dahingestellt! Freilich läßt sich Achill besänftigen. Schauen wir uns den Preis an. Oder worum sich die griechischen Helden streiten. Frauen (auf die sie dann, insbesondere im Falle Kassandras, doch nicht hören)!
Moderne Krieger schreien: „Niemand, niemand hat es getan! Das ist reine Propaganda des jeweiligen Feindes, hier Namen eintragen!“ Damals standen die Kämpfer noch dazu. Sie kämpften für eine hochgehaltene Ehre, ja, aber vor allem auch, weil sie diese Kämpfe als Erwerbsarbeit betrachteten. Dem Sieger die Beute…
Zornig könnte man werden. Wie Penthesilea, ja, wie Athene, die auch Odysseus aus der Patsche half. Aber es nutzt nichts. Die Macht teilen sich die drei Brüder. Es ist immer dasselbe. Sie streiten, aber man versuche nicht, gegen sie aufzubegehren – plötzlich halten sie zusammen! Da sind sie sich einig!
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