Dieser Eintrag ist direkt angeregt durch deinen heutigen Eintrag, Myriade, zum gleichen Bild.
„Blüten am Atlantik“ überschreibst du deinen kleinen feinen Text, in dem du dich auf Prousts „„Im Schatten junger Mädchenblüte“ beziehst. Sofort ploppte ein Lied aus Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ in mir auf.
https://youtu.be/5-W1W0D-xhw, Berliner Philarmoniker, Abbado.
VON DER SCHÖNHEIT
(Nach Li–Tai–Po)
Junge Mädchen, pflücken Blumen
Pflücken Lotosblumen an dem Uferrande.
Zwischen Büschen und Blättern sitzen sie,
Sammeln Blüten in den Schoß und rufen
Sich einander Neckereien zu.
Goldne Sonne webt um die Gestalten,
Spiegelt sie im blanken Wasser wider.
Sonne spiegelt ihre schlanken Glieder,
Ihre süßen Augen wider
Und der Zephir hebt mit Schmeichelkosen
Das Gewebe ihrer Ärmel auf, Führt den Zauber
Ihrer Wohlgerüche durch die Luft.
Du merkst dann an, dass trotz der großen Unterschiede in der äußeren Erscheinung und den modeabhängigen Details, „strahlt so eine Gruppe junger Mädchen eine ganz eigene Energie aus, durch Zeitalter und Kulturen.“ Welch ein schöner Gedanke! Sie werden vom Wasser angezogen, spiegeln sich gern darin … ja! Dieser Gedanke ist auch in den oben zitierten Zeilen enthalten – Zeilen, die uralt sind. Denn die Liedtexte, die dem „Lied von der Erde“ zugrunde liegen, sind „deutsche Nachdichtungen von chinesischen Gedichten aus der Tang-Zeit, die im 19. Jahrhundert ins Französische und Anfang des 20. Jahrhunderts weiter ins Deutsche übersetzt wurden.“ Und wann war die Tang-Zeit? von 617/18 bis 907.
Meer, Fluss, See oder nur ein Teich – die Spiegelung im Wasser zieht alle Gruppen an, wie in dem wunderbaren Strophen „Von der Jugend“ aus demselben Zyklus von Gustav Mahler vor Augen gestellt:
Wie der Rücken eines Tigers
Wölbt die Brücke sich aus Jade
Zu dem Pavillon hinüber.
In dem Häuschen sitzen Freunde,
Schön gekleidet, trinken, plaudern,
Manche schreiben Verse nieder.
Ihre seid‘nen Ärmel gleiten
Rückwärts, ihre seid‘nen Mützen
Hocken lustig tief im Nacken.
Auf des kleinen Teiches stiller
Wasserfläche zeigt sich alles
Wunderlich im Spiegelbilde.
Alles auf dem Kopfe stehend
In dem Pavillon aus grünem
Und aus weißem Porzellan;
Wie ein Halbmond steht die Brücke,
Umgekehrt der Bogen. Freunde,
Schön gekleidet, trinken, plaudern
Dann wirst du traurig und notierst: „Es gibt aber auch Kulturen und Situationen, in denen junge Frauen nicht blühen dürfen, nicht strahlen und nicht leuchten und schon gar nicht eigene Vorstellungen vom Leben verwirklichen.“
Ja, auch das ist wahr. Zugleich fiel mir tröstend ein früherer Beitrag zu deiner Impulswerkstatt ein, in dem ich eine solche Gruppe im Zauberspiegel zeigte, der zu einer Skulptur in Athen gehört: die jungen Mädchen mit Kopftüchern, die auf den kleinen Bruder aufpassen müssen, ähneln, wenn man in den Zauberspiegel schaut, ihren chinesischen Altersgenossinnen von damals, vor anderthalbtausend Jahren, und auch den heutigen Portugiesinnen. Es ist tatsächlich dieselbe Energie durch alle Zeiten und Kulturen.
Ach, Li Tai Po habe ich vor Jahren auch gerne gelesen und nachgedichtet. Zumindest ersteres sollte ich mal wieder tun. Die Lyrik der Tang-Zeit ist stimmungsvoll, bildreich und lebensnah – jedenfalls in der vermutlich x-fach überformten Weise, wie sie durch Nachdichtungen zu uns gekommen ist.
Doch Myriades trauriger Einwand über Kulturen, in denen junge Mädchen nicht blühen dürfen, stachelt das Teufelchen in mir an. Diesen faszinierenden und erschreckenden Essay habe ich gestern gelesen und empfehle ich dringend weiter:
https://jonathanhaidt.substack.com/p/mental-health-liberal-girls
Haidt untersucht darin mögliche Ursachen dafür, dass in den USA mittlerweile mehr als die Hälfte (!) aller „liberalen“, jungen Frauen schon einmal psychisch krank gewesen sind. Der goldene Westen – eine Kultur, in der Mädchen nicht blühen dürfen?
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Danke, auch für den Link. Ich gebe dir schonnauch recht, dass die Entwicklung junger Menschen in unseren sog liberalen Gesellschaften sehr problembeladen ist. Das fast völlige Fehlen von brauchbaren Leitbildern und die Zerflederung der Geschlechterrollen erfordert von Heranwachsenden eine viel größere Eigenleistung, als in traditionellen Gesellschaften nötig ist.
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Ja. Das betrifft beide Geschlechter. Männlichkeit ist fast nur noch negativ konnotiert. Und unter „Emanzipation“ versteht man im Kapitalismus, dass Frauen dann und nur dann akzeptiert werden, wenn sie sich genauso verhalten wie Männer.
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Das ist auch ein interessanter Beitrag. Allerdings überzeugt mich die Idee politische Überzeugungen und psychische Erkrankungen in Verbindung miteinander zu setzen nicht besonders. In Statistiken kann man natürlich alles und jedes miteinander in Verbindung bringen, ob dabei Sinnvolles herauskommt, ist eine andere Frage.
Aber die prinzipielle Frage des glücklichen Aufwachsens in heutigen westlichen Kulturen ist sehr interessant, unbedingt ….
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Nun ja, die Zahlen – aus verschiedenen Quellen – sind, wie sie sind. Meine Sorge wäre allenfalls eine gewisse Zirkularität in der Argumentation, falls nämlich „liberal“ definiert ist durch genau die Glaubenssätze, die psychologisch problematisch sind.
Auch ich bin durchaus froh, dass meine Töchter nicht in einem muslimischen Land aufwachsen müssen. Trotzdem reagiere ich immer allergisch, wenn – in einer Art „Wippschaukeleffekt“, wie Albrecht Müller das nennt – im Umkehrschluss suggeriert wird, bei uns wäre ja alles viel besser. Wenn ich sehe, welche Probleme gerade meine große Tochter gerade hat, ihren Platz in der Welt zu finden, und wenn ich mich andererseits wundere, wie überhaupt kein Interesse beide am anderen Geschlecht zeigen, obwohl das altersmäßig längst überfällig wäre – dann glaube ich nicht, dass diese Gesellschaft ihnen gut tut.
Ach, hätten wir doch damals die Chance genutzt, nach Kolumbien auszuwandern . . .
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Ich fürchte, dass das Frauenbild in der kolumbianischen Gesellschaft noch ein wenig problematischer ist, als in Europa. Insgesamt haben es Frauen nirgends wirklich leicht.
Dass in Europa diesbezüglich alles wunderbar wäre, habe ich nie behauptet, es ist nur eindeutig besser als etwa in muslimischen Ländern
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Welch ein verzauberndes Licht am Meer! Zauberhaft die Mädchen davor! Auch im „Zauberspiegel“ betrachtet!☺️
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Solche Spontanbeiträge muss man erst mal hinkriegen! Wunderbar, wie du die Gedanken hinter dem Text aufgenommen und erweitert hast. Mahler, Li–Tai–Po und dein Zauberspiegel, alles erläutert und spiegelt die junge-Mädchen-Energie. In meinen Lehrerinnenzeiten hat es mich immer fasziniert, wie sehr das Klima in einer Klasse durch das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Schülerinnen und Schülern geprägt wird und wie unterschiedlich die Gruppendynamik ist.
Herzlichen Dank für den Beitrag und einen schönen Tag wünsche ich dir!
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Das stimmt mit meiner Erfahrung als Lehrerin überein: Mädchengruppen funktionieren ganz anders als Jungengruppen, freilich nicht unbedingt erfreulicher. Es kommt ganz darauf an, welcher Stil sich durchsetzt. Gemischte Klassen sind nochmal vollkommen anders. In gewissem Umfang bleibt das auch bei Erwachsenen so.
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