Tagebuch der Lustbarkeiten: Hand mit Avocado-Hälfte (alltägliches Zeichnen)

Heute nehme ich eine halbe Avocado in die Hand. Es ist eine von den kleinen mit tief dunkelgrüner, genoppter Schale. Ich hatte sie essen wollen, aber sie war zu hart. Die eine Hälfte zerschnippelte ich dennoch und fügte sie einem Imbiss bei.

Die andere Hälfte beginnt, sich an den Schnittstellen zu verfärben: Rötlichgelb im Weißgelb der ungleichmäßigen Schnittfläche des Fleisches. Sie liegt eingepasst in meiner Hand, fast so, wie der große Kern eingepasst in der Frucht ruht.

„Wozu zeichnest du das?“ – Ich will es begreifen. Jedenfalls diese ganz alltäglichen Dinge möchte ich ein bisschen begreifen. „Begreifst du sie denn, wenn du sie zeichnest?“ – Nein, aber ich nähere mich ihnen an. – „Und was hast du dadurch gewonnen?“ – Ich weiß nicht. Vielleicht ein wenig Stabilität. Außerdem habe ich mich nun mit der eleganten Umrisslinie der Avocado bekannt gemacht, ich kenne die kleine schattige Dreiecksform zwischen ihrer Haut und meinem Daumen, die winzige Lücke zwischen den Außenhäuten. Ich bin dem Kern nachgegangen, seiner wie draufgeklebtes Seidenpapier an ihm haftenden bräunlichen Haut,  und der Wölbung des enthäuteten hellen Teils. „Und das reicht dir?“ –

Es gab eine Zeit, da bewegte sich mein Stift frei über das Papier und ich meinte, die Dinge zu kennen und zu beherrschen. Da fühlte ich mich als ihr Meister und konnte mutig abstrahieren. Jetzt bin ich ängstlich geworden. Ist diese Linie denn wahr, jener Schatten stimmig? Haben  nicht auch die Dinge – und nicht nur sie, sondern auch das Nichts zwischen ihnen – das Recht, wahrgenommen zu werden, wie sie sind?

Immer noch scheint mir alles zu unaufmerksam, zu oberflächlich wahrgenommen. Ich möchte zwischen die Häute der Avocado kriechen und schauen und fühlen, was es dort zu fühlen und zu schauen gibt.  Die Frucht als Zauberberg.

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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25 Antworten zu Tagebuch der Lustbarkeiten: Hand mit Avocado-Hälfte (alltägliches Zeichnen)

  1. Gisela Benseler schreibt:

    Eine feine mahnende Stimme im Hintergrund? War das vielleicht Dora, die da Fragen stellte und Du sie zu beantworten versuchtest?

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  2. Das ist wunderbar ausgedrückt: Die Frucht als Zauberberg!

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  3. kopfundgestalt schreibt:

    Das ist ein schmaler Grad:
    Da fühlte ich mich als ihr Meister…

    Auch beim Aktzeichnen ist das so oder beim Aktmodellieren: Genau hinsehen und nicht etwas aus dem Kopf malen, während man vor dem Modell sitzt.
    Man kann natürlich auch seine Stimmung zeichnen, das Interieur des Raumes einfliessen lassen, das Modell quasi als Anlass nehmen.
    Es gibt da viele Wege.
    G.

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    • gkazakou schreibt:

      Ja, ich weiß, Gerhard. Es hängt von der jeweiligen inneren Kraft ab, ob man es schafft, sowohl präzise zu bleiben (womit ich nicht naturgetreu meine) als auch frei atmend in den subjektiven Ausdruck zu gehen.

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      • kopfundgestalt schreibt:

        Ich weiß, Dass Du weisst. Und Du weisst auch, daß ich weiß, dass Du das weißt. 🙂

        Ich werde wohl am Montag wieder mit dem Aktzeichen weiter machen. Es hat mir jahrelang gute Dienste gelesistet.
        G..

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      • gkazakou schreibt:

        Du hast recht, Gerhard. Wir schreiben ja oft im Wissen, dass der andere es auch weiß. Aber vielleicht hat ein Dritter noch nicht drüber nachgedacht. Also schreibt man es hin.

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  4. Mitzi Irsaj schreibt:

    ….Ich möchte zwischen die Häute der Avocado kriechen und schauen und fühlen, was es dort zu fühlen und zu schauen gibt…. schreibst du und ich erinnere mich daran, dass man viel öfter angesichts des alltäglichen Staunen sollte. Etwas zu zeichnen ist wahrscheinlich ein recht guter Weg, viel genauer hinzusehen.

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  5. Werner Kastens schreibt:

    Hautnah leben – wie lange kann man das durchhalten?

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  6. Tolle Zeichnung! Die Frucht als Zauberberg, oder aber auch die Welt als Zauberberg… Das Wesen der Dinge erforschen.
    Wundervoll beschrieben, liebe Gerda

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  7. Auf der Suche nach des Pudels Kern 😉

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    • gkazakou schreibt:

      Hm. In der Avocado steckt, denke ich mir, ein Avocado-Kern. Bei Pudeln kenne ich mich nicht so aus: Immer schon fragte ich mich, was wohl aus dem Pudel geworden ist. Ist er explodiert? Fristet er nun irgendwo abseits sein traurig-kernloses Pudeldasein? Was den Pudelkern anbetrifft, so hat er sich schon millionenfach gespalten seither – die Physiker nennen das Kernspaltung, ich nenne es Mephisto-Vermehrung. 🙂

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  8. Melina/Pollys schreibt:

    Ja, Annäherung, mehr wird uns in dieser Welt wohl nicht gelingen, aber das ist viel.

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  9. derschwarzekater schreibt:

    Als Biologiestudent habe ich nie ganz verstanden, was, wie, und eigentlich auch: warum wir zeichnen sollten. Jahre später dann habe ich meinen Studenten selbst gepredigt: Nur was man zeichnen kann, hat man wirklich gesehen. Photographieren – oder vielmehr knipsen – kann man auch, wenn man ganz woanders hinschaut. Aber um etwas zu zeichnen, muss man es sehen.
    Dasselbe gilt übrigens auch beim inhaltlichen Verstehen: Nur, was man erklären kann, hat man verstanden.
    Jetzt, wo ich darüber nachdenke, scheint mir darin das Motto Deines Welttheaters aufzuscheinen: Ich habe etwas erst dann ganz er-fasst, also an mich genommen, wenn ich es wieder-geben kann.

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    • gkazakou schreibt:

      Herzlichen Dank gleich noch einmal, lieber Schwarzer Kater! Das mit dem Zeichnen sehe ich genauso. Und dass mabn nur erklären sollte, was man selbst verstanden hat, ist eine gute Devise.
      Beim Welttheater setze ich vor allem Vertrauen in die Weisheit der Figuren, ihre innere Logik.
      Wenn ich die Welt so anschaue, sehe ich oft Charakter und Handlung im Einklang. Im Typus bleibt dieser Einklang bestehen, er ist festgeschrieben: ein Geizhals ist geizig, ein Nachdenklicher ist nachdenklich, ein Kind bleibt ein Kind. Im Menschen aber gibt es Bewegung, Brüche, Widersprüche, Kehrtwendungen, Entwicklungen, Wandlungen. Meine Figuren bewegen sich dazwischen: Nicht starr wie der Typus – nicht so unwägbar und wandelbar wie der Mensch.
      Die „wirkliche Welt“ wird sich um dies Theater wenig scheren. Aber ich lerne dazu.

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