Christiane lud zum Balladenmontag. Ich schaffte es nicht, meinen gestern vorbereiteten Beitrag zu posten. Daher heute:
Kraniche: Einige von euch sahen dieser Tage Kraniche, die sich sammeln, um in riesigen Scharen gen Süden zu fliegen. Mir wurde dieser Anblick nur ein einziges Mal geschenkt, als ich durch eine Schlucht bei Marathon wanderte und eine schwere dunkle Wolkenwand einen Kranichzug vor sich herschob. Nie werde ich es vergessen!
Corinthus Landesenge: Meinen ersten Griechenlandkontakt hatte ich 1966: Der AStA der FU Berlin, dem ich damals angehörte, wurde durch Vermittlung unseres Vorsitzenden Knut Nevermann nach Israel eingeladen. Es war die erste Einladung junger Deutscher nach Israel. Die Idee war, mit den unterschiedlichsten politischen Gruppierungen Israels ins Gespräch zu kommen. Es wurde eine meiner wichtigsten Erfahrungen.
Warum ich das hier erzähle? Weil unser uralter zypriotischer Dampfer namens ΑΓΑΠΗ (Agape, Liebe), aus Italien kommend, Richtung Piräus den schmalen Kanal von Korinth durchfuhr. Wir standen an Deck und winkten den Menschen zu, die wir hoch über uns auf einer Brücke entdeckten. Gleich darauf segelten Weintrauben aufs Deck. Welch süße Begrüßung durch meine spätere zweite Heimat!
Korinth: Einmal lauschte ich im Stadion außerhalb von Korinth Petros Gaitanos, dem großen Psalten, der das „Hohelied der Liebe“ vortrug – eine Vertonung des Briefes, den Paulus an die frühchristliche Gemeinde von Korinth schrieb: Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle….“. An diesem Ort! Auch das werde ich nie vergessen.
Die „Kraniche des Ibykus“ von Friedrich Schiller gehörten schon in meiner Schulzeit zu meinen Lieblingsballaden. Ich kann sie nicht ganz auswendig, aber viele Passagen sind mir bis heute geläufig: „Zum Kampf der Wagen und Gesänge, Der auf Corinthus Landesenge Der Griechen Stämme froh vereint, Zog Ibycus, der Götterfreund.“
Ich bringe hier die annotierte Version des Friedrich-Schiller-Archivs, denn vielen werden Orte und Namen, die zur klassischen Bildung gehörten, heute unbekannt sein. Bei Bedarf kannst du dort auch alles Wissenswerte über die Entstehung der Ballade (1798) nachlesen.

Landschaft bei Korinth, aufgenommen von Akrokorinth.
Die Kraniche des Ibykus
Zum Kampf der Wagen und Gesänge1,
Der auf Korinthus‘ Landesenge2
Der Griechen Stämme froh vereint,
Zog Ibykus, der Götterfreund.
5Ihm schenkte des Gesanges Gabe,
Der Lieder süßen Mund Apoll3,
So wandert‘ er, an leichtem Stabe,
Aus Rhegium4, des Gottes voll.
Schon winkt auf hohem Bergesrücken
10Akrokorinth5 des Wandrers Blicken,
Und in Poseidons Fichtenhain6
Tritt er mit frommem Schauder ein.
Nichts regt sich um ihn her, nur Schwärme
Von Kranichen begleiten ihn,
15Die fernhin nach des Südens Wärme
In graulichtem Geschwader ziehn.
»Seid mir gegrüßt, befreundte Scharen!
Die mir zur See Begleiter waren,
Zum guten Zeichen nehm ich euch,
20Mein Los, es ist dem euren gleich.
Von fernher kommen wir gezogen
Und flehen um ein wirtlich Dach.
Sei uns der Gastliche7 gewogen,
Der von dem Fremdling wehrt die Schmach!«
25Und munter fördert er die Schritte
Und sieht sich in des Waldes Mitte,
Da sperren, auf gedrangem8 Steg,
Zwei Mörder plötzlich seinen Weg.
Zum Kampfe muß er sich bereiten,
30Doch bald ermattet sinkt die Hand,
Sie hat der Leier zarte Saiten,
Doch nie des Bogens Kraft gespannt.
Er ruft die Menschen an, die Götter,
Sein Flehen dringt zu keinem Retter,
35Wie weit er auch die Stimme schickt,
Nichts Lebendes wird hier erblickt.
»So muß ich hier verlassen sterben,
Auf fremdem Boden, unbeweint,
Durch böser Buben Hand verderben,
40Wo auch kein Rächer mir erscheint!«
Und schwer getroffen sinkt er nieder,
Da rauscht der Kraniche Gefieder,
Er hört, schon kann er nicht mehr sehn,
Die nahen Stimmen furchtbar krähn.
45»Von euch, ihr Kraniche dort oben!
Wenn keine andre Stimme spricht,
Sei meines Mordes Klag erhoben!«
Er ruft es, und sein Auge bricht.
Der nackte Leichnam wird gefunden,
50Und bald, obgleich entstellt von Wunden,
Erkennt der Gastfreund in Korinth
Die Züge, die ihm teuer sind.
»Und muß ich so dich wiederfinden,
Und hoffte mit der Fichte Kranz9
55Des Sängers Schläfe zu umwinden,
Bestrahlt von seines Ruhmes Glanz!«
Und jammernd hörens alle Gäste,
Versammelt bei Poseidons Feste,
Ganz Griechenland ergreift der Schmerz,
60Verloren hat ihn jedes Herz.
Und stürmend drängt sich zum Prytanen10
Das Volk, es fodert seine Wut,
Zu rächen des Erschlagnen Manen11,
Zu sühnen mit des Mörders Blut.
65Doch wo die Spur, die aus der Menge,
Der Völker flutendem Gedränge,
Gelocket von der Spiele Pracht,
Den schwarzen Täter kenntlich macht?
Sinds Räuber, die ihn feig erschlagen?
70Tats neidisch ein verborgner Feind?
Nur Helios12 vermags zu sagen,
Der alles Irdische bescheint.
Er geht vielleicht mit frechem Schritte
Jetzt eben durch der Griechen Mitte,
75Und während ihn die Rache sucht,
Genießt er seines Frevels Frucht.
Auf ihres eignen Tempels Schwelle
Trotzt er vielleicht den Göttern, mengt
Sich dreist in jene Menschenwelle,
80Die dort sich zum Theater drängt.
Denn Bank an Bank gedränget sitzen,
Es brechen fast der Bühne Stützen13,
Herbeigeströmt von fern und nah,
Der Griechen Völker wartend da,
85Dumpfbrausend wie des Meeres Wogen;
Von Menschen wimmelnd, wächst der Bau
In weiter stets geschweiftem Bogen
Hinauf bis in des Himmels Blau14.
Wer zählt die Völker, nennt die Namen,
90Die gastlich hier zusammenkamen?
Von Theseus‘ Stadt15, von Aulis Strand16,
Von Phokis17, vom Spartanerland,
Von Asiens entlegner Küste,
Von allen Inseln kamen sie
95Und horchen von dem Schaugerüste
Des Chores grauser Melodie,
Der streng und ernst, nach alter Sitte,
Mit langsam abgemeßnem Schritte,
Hervortritt aus dem Hintergrund18,
100Umwandelnd des Theaters Rund19.
So schreiten keine irdschen Weiber,
Die zeugete kein sterblich Haus!
Es steigt das Riesenmaß der Leiber
Hoch über menschliches hinaus20.
105Ein schwarzer Mantel schlägt die Lenden,
Sie schwingen in entfleischten Händen
Der Fackel düsterrote Glut,
In ihren Wangen fließt kein Blut.
Und wo die Haare lieblich flattern,
110Um Menschenstirnen freundlich wehn,
Da sieht man Schlangen hier und Nattern
Die giftgeschwollnen Bäuche blähn.
Und schauerlich gedreht im Kreise
Beginnen sie des Hymnus21 Weise,
115Der durch das Herz zerreißend dringt,
Die Bande um den Sünder schlingt.
Besinnungraubend, herzbetörend
Schallt der Erinnyen Gesang,
Er schallt, des Hörers Mark verzehrend,
120Und duldet nicht der Leier Klang:
»Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle
Bewahrt die kindlich reine Seele!
Ihm dürfen wir nicht rächend nahn,
Er wandelt frei des Lebens Bahn.
125Doch wehe, wehe, wer verstohlen
Des Mordes schwere Tat vollbracht,
Wir heften uns an seine Sohlen,
Das furchtbare Geschlecht der Nacht!
Und glaubt er fliehend zu entspringen,
130Geflügelt sind wir da, die Schlingen
Ihm werfend um den flüchtgen Fuß,
Daß er zu Boden fallen muß.
So jagen wir ihn, ohn Ermatten,
Versöhnen kann uns keine Reu,
135Ihn fort und fort bis zu den Schatten,
Und geben ihn auch dort nicht frei.«
So singend, tanzen sie den Reigen,
Und Stille wie des Todes Schweigen
Liegt überm ganzen Hause schwer,
140Als ob die Gottheit nahe wär.
Und feierlich, nach alter Sitte
Umwandelnd des Theaters Rund
Mit langsam abgemeßnem Schritte,
Verschwinden sie im Hintergrund.
145Und zwischen Trug und Wahrheit schwebet
Noch zweifelnd jede Brust und bebet
Und huldiget der furchtbarn Macht,
Die richtend im Verborgnen wacht,
Die unerforschlich, unergründet
150Des Schicksals dunkeln Knäuel flicht,
Dem tiefen Herzen sich verkündet,
Doch fliehet vor dem Sonnenlicht.
Da hört man auf den höchsten Stufen22
Auf einmal eine Stimme rufen:
155»Sieh da! Sieh da, Timotheus,
Die Kraniche des Ibykus!« –
Und finster plötzlich wird der Himmel,
Und über dem Theater hin
Sieht man in schwärzlichtem Gewimmel
160Ein Kranichheer vorüberziehn.
»Des Ibykus!« – Der teure Name
Rührt jede Brust mit neuem Grame,
Und, wie im Meere Well auf Well,
So läufts von Mund zu Munde schnell:
165»Des Ibykus, den wir beweinen,
Den eine Mörderhand erschlug!
Was ists mit dem? Was kann er meinen?
Was ists mit diesem Kranichzug?« –
Und lauter immer wird die Frage,
170Und ahnend fliegts mit Blitzesschlage
Durch alle Herzen. »Gebet acht!
Das ist der Eumeniden Macht!
Der fromme Dichter wird gerochen,
Der Mörder bietet selbst sich dar!
175Ergreift ihn, der das Wort gesprochen,
Und ihn, an dens gerichtet war.«
Doch dem war kaum das Wort entfahren,
Möcht ers im Busen gern bewahren;
Umsonst, der schreckenbleiche Mund
180Macht schnell die Schuldbewußten kund.
Man reißt und schleppt sie vor den Richter,
Die Szene23 wird zum Tribunal24,
Und es gestehn die Bösewichter,
Getroffen von der Rache Strahl.

Akrokorinth, Felsenspitze mit Flugspur
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Hallo! Wenn Ihnen Balladen gefallen, hier ist eine meiner schoensten…
Klicke, um auf ged-real2.pdf zuzugreifen
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A ja, das ist auch eine meiner heiß geliebten Balladen!
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Das freut mich – diese ist weniger bekannt.
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Welche Erfahrung, die Ballade mit eigenen Erfahrungen zu verbinden!
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Danke, ja, lieber Werner. Für mich ist die Belebung kindlicher Vorstellungen und bildungsbürgerlichen Wissens durch echtes Erfahren eine ständige Bereicherung, hier im Land der Hellenen. 🙂
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Liebe Gerda, wie toll ist das denn, diese deine annotierte Ausgabe neben deinen persönlichen Erinnerungen? Super, vielen herzlichen Dank dafür, das ist ein großer Mehrwert, ich habe eben begeistert reingeschaut.
Ich möchte gern noch ein Medium beisteuern: Gert Westphal, den man gestern schon bei mir als Vorleser des „Ritter Manuel“ bewundern konnte, hat natürlich auch die Kraniche eingelesen, und ich erinnere mich aus meiner Jugend daran, denn wir besaßen die Schallplatte(n), und irgendwie hängt damit der Hammer ganz schön hoch … 😉
Hier geht es zur YouTube-Aufnahme, sie startet ab Minute 6:28, auch wenn ich die gesamte Platte für hörenswert erachte:
Sei ganz herzlich gegrüßt, ich freue mich, dass du mitgemacht hast!
Vormittagskaffeegrüße ☁️🍁☕🍪🍂👍
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Oh ja !…… „Die Kraniche“ und „Die Füße im Feuer“.. und „Nils Randers“…alle 3 in der Dorfschule in Süderbraup/Angeln und später im Gymnasium in Schleswig auswendig gelernt…und geliebt. Und, meine Erfahrung, auch als Lehrerin : sie wirken bis HEUTE. Durch Rhythmus , Klang, Dramatik und einen Inhalt, der echt und überzeitlich ist : Gerechtigkeit, Opferbereitschaft, Menschlichkeit…Klar und unsentimental.
Dank ! für die Erinnerung !!!
https://de.wikisource.org/wiki/Nis_Randers
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Ich werde wohl nie aufhören, dieses Ballade im inneren Ohr zu haben – vielen Dank für diesen schönen Beitrag. Es ist ein Herzensgedicht von mir geblieben!!
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Wunderbar, diese Balladentexte, diese Dramatik, die sich aufbaut, bei der man schon fast Herzklopfen bekommt, liebe Gerda.
Die Kraniche kannte ich in Bruchstücken, aber sie ist ja viel länger und noch dramatischer als ich sie in Erinnerung hatte.
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