Dreikönigsfest 2035
Eine optimistisch-sentimentale Etüde mit Notfall-Rezeptur.
Sie konnte sich nur noch vage an den letzten Königskuchen erinnern. Wie war doch noch das Rezept? Das unverwüstliche Oetker-Backbuch stand wie früher auf dem Küchenregal, nur die rechten Seiten waren angesengt. Ah hier, der Königskuchen! Man nehme….
Mit zitterndem Finger fuhr sie über die Zeilen:
etwas Fett
etwas Weizenmehl
für die Gugelhupfform.
Die Form war noch da. Sie hatte sie eigenhändig aus dem Schutt gezogen.
Und für den Rührteig:
50 g Zitronat (vergiss es) – 300 g Butter oder Margarine (akribisch kratzte sie den Rest Margarine aus der Packung) – 250 g Zucker (ein Esslöffel Zucker sollte wohl reichen), 1 Pck Vanillin-Zucker (vergiss es), 1 g Salz (der Salzstreuer war zum Glück heil geblieben), 5 Eier (o je, ja, Eier brauchte man für den Kuchen), 300 g Weizenmehl … So viel Mehl, und dann auch noch 250 g Rosinen? Davon wagte sie nicht mal zu träumen. Backpulver hatte sie nicht, aber sie hatte ein wenig Pottasche, die sie selbst aus Pflanzen hergestellt hatte.
Sie seufzte und betrachtete stirnrunzelnd die sauber gescheuerte Metallplatte, auf der sie alle verfügbaren Ingredienzien aufgebaut hatte. Mit dem echten Königskuchen würde es auch in diesem Jahr nichts werden. Aber vielleicht könnte sie doch einen Teig zusammenrühren. Dem Rest Weizenmehl könnte sie geschrotetes Korn und zermahlene Kichererbsen beimischen, und statt der Rosinen Apfelschalen verwenden. Holz hatte sie genug gesammelt und der Ofen funktionierte trotz fehlenden Rohrs ganz gut. Rauch und Qualm waren sie ja nun schon lange gewohnt. Und statt der üblichen Tränen würde der Duft eines Kuchens ihrem kleinen Sohn Glückstränen in die Augen treiben. Dass er dann das Stück mit der alten 100-Euro-Münze erhalten würde – dafür würde sie schon sorgen.
Voller Vorfreude machte sie sich an die Arbeit.
Und wie ging es weiter?
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was weiß ich?
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Das ist keine Dystopie: Ein Lobgesang auf die Kraft der Menschen!
Danke schön!
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Ja, so war es gedacht. Aber auch als Aufforderung, das, was wir gerade jetzt zulassen (ich meine den Bundestagsbeschluss über schwere Waffen), gedanklich fortzuschreiben. Meine Version ist sehr optimistisch.
Dasselbe gilt für den Konflikt in der Ukraine selbst: was jetzt an Zerstörung läuft und vielleicht noch Jahre weiter laufen wird, hätte verhindert werden können.
Warum muss immer erst alles zerstört werden, damit dann das geschieht, was ja auch vorher schon möglich gewesen wäre: dem anderen entgegenzugehen und Frieden zu machen?
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Es gibt hausgemachte Katastrophen, also Kriege und andere Idiotien, und es gibt sog. Naturkatastrophen, und davon sind manche auch selbst gemacht. Die Hitze, unter der heute Delhi leidet, wird wahrscheinlich in unseren Breiten zu Lebzeiten unserer Kinder und Enkelkinder ankommen und bleiben.
Die Angst, die heute umgeht, ist berechtigt. Aber dann gibt es auch diese Kraft der Liebe.
Ein Quentchen Zuversicht. Berechtigt vor allem deshalb, scheint mir, weil ich da selber was tun kann. In Deinem Text nimmt Frau Fürsorge die Dinge in die Hände wie Baumaterial für eine schönere Welt, für eine bessere Zukunft. Das Heilende kommt aus dem Herzen, aber auch aus den Händen.
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Bedeutet „optimistisch“, dass wir dann alle noch leben? Was ist in der Etüde denn noch heil – außer der Liebe? Nicht, dass das nichts wäre 🧡
Dein Rezept geht noch anders als meins … 😉
Herzlichen Dank für die Etüde!
Frühabendgrüße ☁️🌼☕🍪🦋👍
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Optimistisch ist, dass einige Menschen noch leben, dass es noch rudimentäre Räume, Heiz- und Nahrungsmittel gibt, dass es noch Augen gibt, die sich mit Glückstränen füllen können. All das ist optimistisch. Ich bin 1942 geboren, Christiane, ich weiß, wie hart das Überleben nach jenem recht harmlosen Krieg war. Unvergleichlich sind seither die Zerstörungspotentiale gewachsen.
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Gerda, ganz ehrlich: Ich schaue in die Welt, mir fehlen die Worte und ich habe Angst.
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Angst habe ich nicht. Ich mache die Augen auf und sehe, dass sehr dunkle Kräfte am Werke sind und unsere menschliche Fähigkeit zu lieben und zu verstehen sehr unterentwickelt ist. Angst wurde in den letzten Jahren sehr geschürt, erst mit Pandemiegeschrei, jetzt mit Kriegsgeschrei. Angst aber ist die Gegenkraft zur Liebe: Hab keine Angst, Christiane!
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Die alte 1oo-euro-Münze ist ja subtiler Grusel und dass du von einem recht harmlosen Krieg sprichst …
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Ein Notfallrezept *schmunzel*, vielleicht schmeckt es ja doch!
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