Die Nacht war kurz, und geschlafen habe ich schlecht. Die Gespräche mit Will.ie gingen mir durch den Kopf, unruhig wendete ich sie hin und her. So manches wollte sich mir nicht zusammenreimen. War alles wirklich so harmlos gewesen, wie sie erzählte? War ihr etwas zugestoßen? Log sie mir was vor?
Ihre merkwürdigen Wahrnehmungen: New York eine ausgestorbene Stadt! Als wir dort waren, ging es auf den Straßen rund. Menschen jeder Couleur, Autos jeder Machart, Geschäfte jeder Art, Imbisse für jeglichen Geschmack – ein endloses Gewusel.
Und dann dieses Kleidchen und die dicke Schminke! „Wenn man ein Mädchen ist, muss das so“, hatten ihr ihre Galane gesagt und sie in eine Spelunke geführt, „Puff“ nannte sie den verqualmten Ort. Hatten sie nur getanzt und vielleicht geraucht? Was geraucht? Was hatte ihr der eine auf seinem goldenen Teller gereicht? Was ist zwischen ihr und dem andern passiert, der eine rote Raute wie im Triumph schwenkt? Die roten Schnipsel – war das Konfetti oder vielleicht… ihr Blut? Hatte sie ihre Jungfernschaft verloren?
Sie sei dann weitergereist, in die Wüste, zu den Indianern. Saß auf einem Indianerpferd – gleichgültig, fast mit Widerwillen hatte sie davon berichtet. Und ihre zynische Art, über sich und den Casinobetrieb der „Rothäute“ zu reden … nein, das war nicht mein Will.i, wie ich ihn kannte. Da war etwas Neues in ihm entstanden, das ich verstehen musste. In ihm – in ihr – auch das kann ich noch nicht wirklich einordnen. Ist er nun ein Mädchen? War er immer ein Mädchen und ich hatte ihn für einen Jungen gehalten? War er bzw sie transgender aus innerer Notwendigkeit oder weil das eben heutzutage „so muss“? Was ist überhaupt ein weibliches, ein männliches Wesen, gibt es da seelische Unterschiede? Und wenn ja, welche? Will.i könnte ich mir nie in so einem Kleidchen vorstellen, umgekehrt wäre es problemlos: Will.ie als Junge gekleidet, auf dem Rücken eines Indianerpferdchens, das ginge prima. Auch mit Kumpels losziehen, rauchen, einen draufmachen – warum nicht? Das ist Jungenart, das brauchen sie, um erwachsen zu werden. Aber ein Mädchen mit Kleidchen und Stöckelschuh? Was ist ihre Rolle, was ihr Geschick?
Bin ich altmodisch? Fehlt mir das richtige Verständnis der Zeit, in der ich lebe? Ich selbst war freilich … Aber reden wir nicht von mir, sondern von Will.i-Will.ie, von heute, von jetzt.
Ach, da ist sie ja! „Guten Morgen, Will.ie!“ Unausgeschlafen schaut sie aus, nach einem Kaffee gelüstet es sie. Soll sie haben. Ich werde sie aushorchen, aber nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. „Wie hast du geschlafen? Komm, wir trinken einen Kaffee zusammen, und dann erzählst du mir noch was von deiner Reise, ja? Du wolltest mir doch noch sagen, was das für Herrschaften waren, mit denen du zu den Indianern geflogen bist. Und dann wasch dir mal diese schwere Schminke aus dem Gesicht, die sieht höllisch aus. Brauchst du diese Karnevalsmütze noch?“
Will.ie gähnt, streckt sich, reibt sich die Augen. „Schon gut,“ sagt sie, „du willst wissen, was da in New York wirklich passiert ist“. – „Nein, nein!“ antworte ich erschrocken. „Du brauchst mir nichts zu erzählen, es geht mich ja nichts an.“ – „Feige, was? Keine Lust auf Wahrheiten?“ sagt sie und grinst unter ihrem verschmierten Makeup hervor. „Wie du willst. Reden wir von meinen Mitreisenden. Der eine hatte zwei Gesichter, ein unbestimmtes Alter und nannte sich Janos. Er sagte, er sei unterwegs zum Jahreswechsel. Jedes Jahr mache er diese Route. Und wenn er am Ziel angekommen sei, sei ich tot….
Die andere ist auf demselben Weg, aber noch nicht geboren. Sie inkarniert sich grad. Wird das Jahr 2022 sein. Meine Ablösung….
Und mach nicht so ein betroffenes Gesicht! Du weißt doch genauso gut wie ich, wie es in der Welt zugeht. Es ist, wie es ist. So, und jetzt hätte ich gern einen Kaffee, bitte!“
Jemand wollte einen Kurs buchen. 2023 hätte ich noch einen frei..
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das versteh ich jetzt nicht.
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Wird das neue W-Wesen nun auch in Frauensportarten antreten und diese dominieren?
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Woher solll ich das wissen, liebe Nandalya? Das Jahr geht seine eigenen Wege, ich laufe hinterher….
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Biologische Männer in Frauensportarten sind ein absolutes Reizthema für mich. Ich hoffe, dass sich das W-Wesen wieder besinnt.
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Das verstehe ich, Nandalya, aber bin ich für den Lauf der Welt verantwortlich? 😉 Falls sich Will.ie einen Männersport aussuchen sollte, könnte ich sie kaum hindern. Aber ich glaub, Sport ist nicht so ihrs. Will-i hatte in der Richtung auch keine besonderen Neigungen und Talente gezeigt.
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Den Kaffee auch für mich! Ein schönes Bild, des verelendenden Jahres. Dennoch stimmt es sentimental.
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Immer gern. Die Kaffeekanne wird grad frisch gefüllt.
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Wenn man die Bilder eines ganzen Lebens zusammenzieht auf ein Jahr, dann werden – nicht nur -bei Willi.i*e wohl andere Schwerpunkte von Bedeutung und bekommen einen anderen Focus?
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So wird es wohl sein, lieber Werner. Hier kommt noch was anderes hinzu. Will.i repräsentiert ja irgendwie die gesamte Erde, ist ein „Weltbürger“. Er trägt schon jetzt drei Hautfarben (weiß, schwarz, rot) und drückt sich in zwei Geschlechtern aus, ist an Europas Ursprung (Griechenland) geboren, hat besondere Beziehungen zu vergangenen Epochen (Ritterzeit, Ankunft der Weißen in Amerika) und war nächtens in Afrika, Ostasien und Nordamerika. Und da drei-vier Tage wie ein Jahr sind, muss man sich diese Aufenthalte als kompromierte Langzeiterlebnisse vorstellen. All diesen Stoff in eine menschliche Biografie zu packen, die sich von der Geburt bis zum Tod im Jahr 2021 entwickelt – ist das möglich? Nun, es ist ein spielerisch-poetisches Experiment, dessen Ergebnisse sich am Jahresende zeigen werden.
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Dann verspricht es, ein sehr spannendes Jahr mit Euch zwei/drei ? zu werden!
Vielleicht kommt Will.i*e ja auch mal im Fernen Osten vorbei? Da soll es ein Volk geben, wo das offizielle Staatsziel vorgegeben ist, die Menschen glücklich zu machen?
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Hm, jetzt bin ich richtig neugierig geworden, was da in New York war – vermutlich was, das mit dem doppelkopfigen Jonas/Janus zu tun hat. Wieso nennst Du ihn Will.ie und nicht Will.ia?
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Na, jedenfalls in der Aussprache ist er sich identisch geblieben.
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* Was ist überhaupt ein weibliches, ein männliches Wesen, gibt es da seelische Unterschiede? *
Noch scheint er / sie frühreif, und er geht mit den Erfahrungen, die er auf seiner Reise gemacht hat, scheinbar * cool * um. Er interessieet sich zwar für Vergangenes, aber er zieiht sich diesen Schuh nicht an. Er / sie bleibt außen vor und deshalb scheint er ein bissel kaltschnäuzig, was er im Innern vielleicht gar nicht ist…
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