Huascaran (aus dem 5. Kapitel der „Schwanenwege“, unveröffentlicht)

Beim Anschauen von Ullis fünftem Beitrag zu Booten und Schiffen (darin der Film Fitzcaraldo) und einem Kommentar von Christa Hartwig (mit einem link zu http://www.barbara-schaefer.de/publikationen/img/30gardasee.pdf), erinnerte ich mich an eine Passage meines Romanfragments „Schwanenwege“.  Ludwig und sein geheimnisvoller Freund Johannes fahren mit der Bahn von Hamburg nach Genua, um Ludwigs Mutter zu finden. Johannes erzählt von einem Schiff namens Huascaran, das 1938 seine Jungfernfahrt von Hamburg nach Genua antrat.*

Schwanenwege, 5. Tag.

Bahnfahrt, Teil eins: Huascaran

Sie fanden ein leeres Abteil. Johannes setzte sich in Fahrtrichtung, Ludwig ihm gegenüber ans Fenster. Eine ältere Dame steckte den Kopf durch die Tür: Noch ein Platz frei? Johannes nickte, half ihr, das Gepäck zu verstauen.

Leise setzte sich der Zug in Bewegung, gewann schnell an Tempo.

Ludwigs Blick schweifte hinaus. Alles bewegte sich von ihm weg, entglitt ihm. Sein Kopf schaukelte hin und her, rüttelte leicht, wenn der Zug über eine Weiche fuhr. Gebäude, Masten, Güterwaggons erschienen, rasten vorbei und wurden Vergangenheit. Weg, vorbei. Ein Wort tauchte in seinem Kopf auf, raste vorbei, verschwand. ‚Mutter’. Tauchte auf, verschwand. ‚Vergiss es’. Der Zug wurde schneller, und schneller rasselten die Gedanken in seinem Hirn.  ‚Svaneby’ – ‚Mutter’ – weg. ‘Schule’ – ‘muss mich entschuldigen’ – weg.  ‚Nacht mit Johannes‘ – weg. Johannes – Johannes.

Johannes war da, saß ihm gegenüber, rutschte nicht weg in die Vergangenheit. Er war da, sagte etwas, sein Mund öffnete sich weich, Laute glitten heraus, Laute. Ludwig starrte auf diesen Mund und versuchte sich zu konzentrieren. Die Laute wurden zu Wörtern, daran reihten sich andere Wörter, sie fügten sich zu einer Geschichte. Johannes erzählte von einem Passagierdampfer namens Huascaran, der seine Jungfernfahrt auf der Strecke Hamburg-Genua machte.

Von Hamburg nach Genua. Unsere Jungfernfahrt. Jung-Fern-Fahrt. Jung. Fern. Fahrt. Mit dem Schiff über die Alpen. Vororthäuser, Schranke, wartende Autos. Auf der Südamerikastrecke, Brasilien, sagte Johannes’ redender Mund. Auf dem Schiff war meine Mutter. Mutter – Mutter.

Meine Mutter, ein Kind, dreijährig, Rahel, meine Mutter, reiste mit diesem Schiff, von Brasilien nach Hamburg.

Langsam tauchte Ludwig aus seiner Benommenheit auf. Was erzählte Johannes da? Seine Mutter, die Rahel, reiste auf dem Schiff? „Entschuldigung“, murmelte er, „was sagtest du eben?“

„Die Huascaran, sagte ich, wurde in Hamburg gebaut, bei Blohm und Voss. Man nannte sie nach dem höchsten Berg von Peru. Stell dir das vor: Ein Schiff mit dem Namen eines Sechstausenders. 1938 im Dezember lief sie vom Stapel. Ein stolzes Schiff, siebentausend Bruttoregistertonnen, dunkler Rumpf, helle Aufbauten. Ihre Jungfernfahrt machte die Huascaran unter der Hakenkreuzfahne, von Hamburg nach Genua.“ Also doch. Er hatte richtig gehört.

„Sie bediente dann kurze Zeit die Südamerikalinie, dann kam der Krieg. Man rüstete sie zum Reparaturschiff der Kriegsmarine um. Bei Kriegsende wurde Blohm und Voss demontiert, und die  Huascaran kam als Beaverbrae in kanadische Hände. Als sie sechzehn war, wurde sie italienisch. Sie erhielt einen weißen Aufbau, wurde überhaupt ganz weiß. Sie war keine Jungfrau mehr, klar, aber eine hübsche Braut, ein Mittelmeer-Schwan mit Namen Aurelia. Mit einunddreißig wurde sie von Griechen gekauft und hörte nun auf den Namen Romanza. Achtunddreißig Jahre war sie, als sie unter die Billigflagge Panamas geriet. Noch einmal wurde sie umgestrichen und neu aufgetakelt. Mit zweiundfünfzig erhielt sie den Namen Romantika. Da war sie schon recht betagt. Mit neunundfünfzig brannte sie völlig aus. Das Wrack wurde nach Ägypten geschleppt und dort verschrottet.“

Das graunasse Land vor dem Zugfenster raste vorbei und verschwand. Ludwigs Gedanken beruhigten sich. Johannes’ Stimme nahm ihn mit auf die Reise des Schiffes. Merkwürdige Wechselfälle, seltsame Verwandlungen. Er sah es vor sich: Das stolze Passagierschiff Huascaran, es läuft vom Stapel – Nazi-Bonzen – Hakenkreuze – Siegheil. Noch ist ja Frieden, doch der Krieg liegt schon in der Luft. Die Huascaran bricht auf zu ihrer Jungfernfahrt nach Genua, Hamburg-Genua, so wie sie jetzt, Johannes und er, Ludwig. Eine Jungfernfahrt. Menschen stehen am Kai und winken zum Abschied. Mit seinen siebentausend Bruttoregistertonnen durchschneidet das Schiff die grauen Wasser der Elbe, in Wedel draußen mit Musik begrüßt und verabschiedet zugleich. Es gewinnt die Weite der Nordsee, zieht an der flachen holländischen Küste entlang, durch den britischen Kanal vorbei an Dunkerque und Calais, an der normannischen Küste zieht es hin, es umschifft die britannische Halbinsel, der Leuchtturm von Brest weist den Weg, noch immer ist ja Frieden, sein dunkler Leib pflügt ruhig das nächtliche windgepeitschte Meer. Es gewinnt die spanische Küste, hier ist der Krieg schon angekommen. Wie lange braucht es, um Portugal zu umfahren? Wie weit ist es bis Cabo de San Vicente, zum Weltende, wo Johannes’ Urvater die Karten für Kolumbus zeichnet, die den Weg nach Brasilien öffnen? Die Huascaran wird ihm folgen, wird dieselbe Route nehmen und Johannes’ Mutter, die Rahel, heimholen nach Hamburg. Heimholen. Seine Mutter. Ein kleines Kind noch.

Langsam dampft die Huascaran durch die Enge von Gibraltar. Der Morgen bricht an, Möwen umkreisen das Schiff. Auf beruhigter See geht es nach Osten, Nordafrikas Küste erscheint im Dunst und verschwindet, als das Schiff nördlichen Kurs auf Sardinien nimmt. Noch muss es vorbei an Korsikas wilder Bergwelt, und da ist ja schon die weite, tief ins Land eingeschnittene ligurische Bucht, der Hafen von Genua: eine steinerne Kulisse, der Kai schwarz von Menschen, die Fähnchen schwenken, schwarze Uniformen, Militärkapelle.

Hier verschwamm ihm das Bild. Wie viele Tage die Huascaran wohl brauchte für ihre Jungfernfahrt? Und wer reiste mit ihr, damals, im Winter 38 auf 39? Waren es fröhliche Menschen, aufbruchshungrige, die sich an Bord drängten und hinabschauten auf den Kai von Hamburg? Die ankommensfreudig Genua begrüßten? Oder ahnten sie schon das Ende, spürten sie schon das ausgebrannte Wrack unter ihren Füßen, das hinüber geschleppt wurde, später, als der Krieg längst vorbei war und das Mittelmeer von Urlaubern wimmelte? Hinüber und hinunter geschleppt nach Ägypten, um unter Pharaos Sternen zerschreddert zu werden?

Jetzt fuhr er selber hin nach Genua, nicht aufbruchshungrig, nicht ankommensfreudig. Ein Wrack mit Angst im Herzen. Mutter, dachte er, Mutter.

Johannes’ Mutter, die Rahel, steht an Bord des Schiffes, ein kleines Kind noch. Sie kehrt heim, nach Hamburg. Doch was heißt hier heim? Sie ist drüben zur Welt gekommen, dort, wo ihre Mutter verbrannt ist. Und ihr Vater. In einem Auto sind sie verbrannt. Pardon, ein Unfall. Am Kai steht eine Frau, die winkt ihr zu. Das ist deine Oma, sagt die Tante, die neben der kleinen Rahel an Bord des Schiffes steht, das Beaverbrae heißt.

Ist es denn wirklich dasselbe Schiff? Die alte Huascaran? Ist das die Aurelia, die Romanza, weißer Schwan des Mittelmeers, dieselbe? Ist das die Romantika, ausgebranntes Wrack, auf einem Dock in Ägypten, auseinander geschweißt die stolzen Flanken, die ehemals weißen Aufbauten, ein Haufen Schrott? Welch lange Reihe von Verwandlungen, und ist doch immer dasselbe Schiff, nicht wahr?

„Metamorphosen”, sagte Ludwig laut.

Die ältliche Reisende, die ihm schräg gegenüber saß, blickte überrascht von dem Buch auf, in dem sie gelesen hatte. (….)

*Die Daten habe ich bei Wikipedia gefunden, das sich bezieht auf Arnold Kludas: Die Geschichte der deutschen Passagierschiffahrt 1850–1990, fünfbändige Lizenzausgabe für Weltbild, Augsburg; Band 5: Eine Ära geht zu Ende 1930 bis 1990. (= Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums. Band 22). 1990, ISBN 3-8225-0041-0, S. 82.  Daraus auch die gemeinfreien Fotos des Schiffes sowie die drei ersten Flaggen (Reichsflagge, Reichskriegsflagge, italienische Handelsflagge). Die vierte und fünfte Flagge zeigen die griechische Handelsmarine (bis 1970) und Panamas Nationalflagge.
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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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8 Responses to Huascaran (aus dem 5. Kapitel der „Schwanenwege“, unveröffentlicht)

  1. Liebe Gerda,

    wie ich mich gefreut habe wieder etwas aus Deinem Roman, leider unveröffentlichtem Roman, Schwanenwege zu lesen.

    Jetzt möchte ich Dir aber ganz dringend empfehlen, wenn Du nicht möchtest dass diese Romanfragmente kopiert werden, etwas in Deinen Einstellungen zu ändern!
    Wenn es Dich nicht stören sollte, dann betrachte meinen Comment als nichtig!

    Du weißt, ich bin ultra begeistert von Deinen Romanfragmenten und bedauere es zu tiefst, dass Du dieses Meisterwerk nicht veröffentlichst!

    Sei herzlich gegrüßt Babsi

    Gefällt 3 Personen

  2. Avatar von Ulli Ulli sagt:

    Liebe Gerda, morgen werde ich das Ganze noch einmal in Ruhe lesen, gerade eben habe ich lieben Besuch und bin nicht ganz dabei … morgen mehr 🙂
    liebgrüß, Ulli

    Gefällt 1 Person

    • Avatar von Ulli Ulli sagt:

      So, Besuch weg, Spülberge bewältigt, Wäsche gewaschen und nun gönne ich mir eine ausführliche Blogrunde und habe gleich bei dir angefangen. Mir geht es ja wie Babsi, so gerne würde ich die Schwanenwege einmal am Stück lesen, mir schwant ( 😉 ) es ist ein Buch, das ich mehrmals lesen würde, zumal du immer wieder viel Geschichtliches und auch Wissenswertes darin verarbeitet hast.
      Ja, es passt wunderbar zur Blogparade der Boote und Schiffe! Besonders mag ich die Metarmorphosen des Schiffes, wodurch einmal mehr klar wird, dass nicht nur wir Menschen solche durchlaufen…
      Herzliche Grüße, Ulli

      Gefällt 3 Personen

  3. Pingback: Facebook und das Hakenkreuz | GERDA KAZAKOU

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