(14) Geschichtengenerator in Aktion
Emma, ihres Zeichens Psychologin mit praktischem Verstand, gerät allmählich unter Zeitdruck. Der Abgabetermin für ihre Magisterarbeit rückt bedrohlich näher. Statt sich auf den Fall John K zu konzentrieren, turtelt sie mit ihrem Chef, dem Psychiater Dr. Erkan Y und verwöhnt ihn mit erlesenen türkischen Käsesorten, nach dem bekannten Motto: Mit Käse fängt man Mäuse. https://gerdakazakou.com/2016/04/06/geschichtengenerator-emma-ka-und-emma-lo-an-der-kaesetheke/
In diese Situation hinein platzt nun Juttas Geschichtengenerator mit Kantine, Luise (ältere Dame mit Hut) und „natürlich kann ich das„. http://juttareichelt.com/2016/04/15/14-geschichtengenerator-in-aktion/. Natürlich kann ich das – denke ich bei mir: die bringe ich schon zusammen! Emma arbeitet gelegentlich in der Kantine an ihrem Fall, zumal jetzt, wo die Zeit drängt und ihre Freizeit (siehe oben) eng bemessen ist. Außerdem plagt mich schon seit einer Weile der Gedanke, dass sich zwar Emma Ka und Emma Lo getroffen haben, dass aber die mir ebenfalls am Herzen liegenden Herren Victor und John sich noch immer völlig unbekannt sind. Und dass es an der Zeit ist, sie zusammen zu bringen. Doch wie bringt man einen an ein selbstgebasteltes Rollgefährt gebundenen schwarzen Dichter mit einem weißen Maler zusammen, der infolge des Mords an Luise nicht frei beweglich ist? Wo sollen sie sich treffen, und warum?
Und nun die Fortsetzung, wobei Rückverweise auf vorhergehende Passagen der Geschichte leider unvermeidlich sind. Juttas geschichtengenerator hat das so an sich: alle Teile und Figuren vernetzen sich, und am Ende muss man den Leser mit einem Ariadnefaden von Querverweisen durch das Labyrinth führen.
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Emma versucht, sich auf den Fall John K zu konzentrieren, von dem in gewisser Weise ihr Glück abhängt. Die erfolgreiche Zusatzausbildung in Kunsttherapie würde ihre Verwendbarkeit auf dem Arbeitsmarkt deutlich verbessern. Sie ist ja nicht mehr die Allerjüngste, kein Springinsfeld mehr, muss schon recht viel nachhelfen, um ihr Äußeres attraktiv zu erhalten. Wenn die Geschichte mit Erkan das gewünschte Happy-End nähme – alles klar. Wenn aber nicht? Als praktisch denkender Mensch setzt sie lieber auf zwei Pferde. Man weiß ja nie.
Querverweis https://gerdakazakou.com/2016/02/17/luise-7-fortsetzung-in-der-psychiatrischen-klinik/
Und so schleppt sie ihre Akte in der Mittagspause mit in die Kantine, betrachtet die künstlerischen Arbeiten ihres Patienten, macht sich Notizen. Sie hat sich inzwischen entschlossen, den „interkulturellen“ Ansatz zu wählen. In gewisser Weise ist dieser „interkulturelle Ansatz“ für sie ein persönliches Thema geworden. Dr. Erkan Y und sie selbst – ein interkultureller Ansatz. Und so schaut sie noch einmal in ihren Dossier und überfliegt noch einmal einen Artikel, in dem sie ein Zitat unterstrichen hat: Wichtig sei auch der kulturelle Hintergrund, sagt C. O., Chef der Forensischen Psychiatrie in W.: „Wenn ein Patient aus Afrika kommt und Geister hört, ist das anders zu bewerten als bei einem Deutschen.“* (Querverweis https://gerdakazakou.com/2016/03/26/geschichtengenerator-10-emma-weiss-alles-komm-flohmarkt/.) Doch wie kriegt sie John in diesen Ansatz hinein? Er ist zwar kein Deutscher, sondern Brite, aber das reicht nicht. Der italienische Großvater? Der jüdische Strang – kann sie den anführen? Ist das political correct, ausgerechnet im Zusammenhang mit Sexualmord infolge von Wahnvorstellungen? Dass Afrikaner die Wirklichkeit anders wahrnehmen als Europäer – okey, gebongt. Aber darf man dasselbe für Juden annehmen? Sind die nicht irgendwie doch uns Deutschen ähnlicher als ….
Grübelnd blickt sie auf. Da fällt ihr Blick auf einen Tisch, an dem sich zwei Personen niedergelassen haben, die sie noch nie hier gesehen hat. Die eine ist eine hochgewachsene blasse Frau, ältlich, mit einem Hütchen auf dem schütteren grauen Haar. Der andere ist ebenfalls hoch gewachsen, doch jünger, mit einem recht scharf geschnittenen dunklen Gesicht und auffallend bunter Kleidung, dazu auch einer Fez-artigen Kopfbedeckung. Ein Afrikaner. Merkwürdig, was machen die hier? Besucher sind in der Kantine eigentlich nicht zugelassen.
Zur Erinnerung: der Bunte Lange, Freund von Victor dem Dichter,ist hier zu sehen.
Und Luise? Nun, ihr erinnert euch sicher an das erste Treffen mit Nina, das John beobachtete. Die Dame mit dem grünen Hut ist Luise, im Gespräch mit Nina.
„Was geht es mich an“, denkt Emma, sich selbst wegen ihrer Bereitschaft, sich ablenken zu lassen, tadelnd. Sie nimmt ein Schlückchen vom schon erkalteten Kaffee und will sich wieder ihrem Dossier zuwenden, da erheben sich die beiden und kommen direkt auf ihren Tisch zu. „Erlauben Sie, dass wir uns zu Ihnen setzen?“, fragt der Afrikaner. „Wir könnten Ihnen bei Ihrer Arbeit, die der Wissenschaft zu dienen sich anheischig macht, hilfreich erscheinen.“ Eine merkwürdige Ausdrucksweise hat dieser Mann! So gedrechselt und überhöflich! Aber wie erstaunt ist Emma erst, als sie hört, was die ältere Dame, auf den Dossier weisend, hinzufügt: „Sie kennen mich schon, aber verkehrt herum. Ich erzähle Ihnen gern meine Version der Geschichte“.
Völlig verblüfft und sprachlos macht Emma eine vage Geste in Richtung der Stühle, und die unerwarteten Gäste setzen sich bereitwillig. „Haben Sie die Freundlichkeit, unsere Namen zu hören“, hört Emma nun den Mann sagen. „Mich nannte meine Mutter Abraam, nach dem Ur-Vater der Hebräer. Da Sie bei sich erwägen, der jüdischen Abstammungslinie Ihres Patienten Bedeutung beizumessen, ist Ihnen die Herkunft meines Namens sicher nicht unbekannt. Ich möchte aber korrekterweise hinzufügen, dass meine Mutter …“ Hier unterbricht die Dame mit dem Hütchen schroff: „Schon gut, Abraam. Schon gut. Wer will die ganze Geschichte deines Stammes hören? Am Ende landest du noch bei Adam und Eva, die bekanntlich in Afrika zu Hause waren! Genug! Mich nannte man zu Lebzeiten Luise. Aber das wissen Sie ja. Ich bin die Ermordete in Ihrer Akte. Lassen Sie mal sehen!“ und sie langt hinünber zum Dossier, fährt mit hastigen Bewegungen durch die Blätter und zieht
einige heraus. „Die hier!“
ja, und schließlich, dank der Hysterie Ihres Klienten, dann auch die hier.“
Unter normalen Umständen würde Emma erstens die Dame dahingehend korrigieren, dass es sich bei John nicht um einen Fall von Hysterie, sondern von Psychose handelt, und zweitens scharf gegen den Übergriff auf das Patienten-Dossier protestieren. Doch dies sind keine normalen Umstände, so viel ist ihr klar. Ihr ist schwindlelig. Die Anspannung der letzten Tage, vielleicht auch – aber das will sie lieber nicht denken – ihre allzu hoch gespannten Erwartungen Richtung Erkan fordern ihren Tribut. Ein kleiner Urlaub wäre am Platze. Sie wischt sich über die Augen, um den Spuk zu vertreiben. Aber die Dame lacht nur höhnisch: „Typisch! Nennt sich Psychologin, Seelenkundlerin, glaubt aber nicht an die Seele, sondern meint, das sei eine Ausscheidung der Drüsen, die sich beim Tod ihres Trägers auflöst. Kaum setzt sich eine solche Seele an ihren Tisch, hält sie sich für übergeschnappt.“

Luises Seele (in gelb) zum Zeitpunkt ihrer Trennung von Luises Leib
Der höfliche Herr namens Abraam fügt, freundlich und verbindlich lächelnd, hinzu: „Gnädige Frau Emma, Ihre Verwirrung ist verständlich. Sie hat, seien Sie dessen versichert, keine persönliche Ursache, sondern ist in der andersartigen kulturellen Sozialisation von Ihnen, einer modernen Europäerin, und uns Afrikanern und, wenn Sie gestatten, auch der alten Hebräer begründet, die, wie Sie sicher wissen, einst ihren Gott in einer Feuersäule einhergehen sahen und später ….“. „Bitte, Abraam, du machst die Dame noch ganz verrückt mit deinen Stammesgeschichten. Siehst du nicht, wie sie schon nach Luft schnappt? Sie fällt uns noch um, bevor ich meine Geschichte loswerden kann!“ „Du hast recht, Luise, verzeih, ich verliere mich allzu gern in den fernen Zeiten des Beginns, als Afrika noch die Wiege der Menschheit und ein Paradies war. Als, wie mein Freund, der Dichter Victor, so wundervoll sagt, der fröhliche Lärm der Papageien die Wälder erfüllte und kein Hunger die Menschen heimsuchte. Als ….“ „Bitte, Abraam, kann ich nun endlich meine Geschichte erzählen?“ „Aber natürlich, liebe Luise, natürlich kannst du das.“ Und so ist auch dies gesagt, dies Natürlich kann ich das.

Johns „Raub der Europa“ nach Max Beckmann
Die Tessiner, die oft italienischer, deutschweizer oder Deutscher Abstammung sind, würden, so glaube ich, zu dieser recht verzwickten Geschichte sagen, „tutto il mondo è paese“! Danke, Gerda, für diese spannende Story und ich hoffe doch, dass Luise das ihrige noch wird sagen können. Viele Grüsse Martina
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aber klar doch! Ist es doch der Geist, der spricht, und nicht die Zunge.
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*lach*, ich habe die Anmerkungen, bzw. die Querverweise, Deinen Ariadnefaden, erst mal beiseite gelassen und mich köstlich amüsiert über Deinen Afrikaner Abraam mit der Hütchendame Luise, die sich zu Emma setzten und sie ganz und gar aus ihrer wohlverdienten Ruhe brachten und ihr selbige ganz und gar raubten.
(Dann mußte ich aber doch dem feinen haltbaren Ariadnefaden folgen, um mich nicht im heillosen Gewirr meiner Gedanken zu verfangen *g*)
Luises Seele hat es mir angetan, liebe Gerda, und ich stelle mir gerade ein Kinderbuch von Dir vor, in dem es um diese kleine gelbliche Seele mit den putzigen Flügelchen geht, die fliegt und fliegt und kein Ende findet, bis Du ihr zeigst, wo ihr Weg sein könnte.
Liebe Grüße von Bruni
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*freu*. Du als tapfere Theseus-Seele findest dich auch ohne Ariadnefaden zurecht. Den habe ich nur für sporadische Leser vorsorglich gelegt, die sich sonst in lauter Sackgassen verlaufen könnten. Luises Seele wird wohl noch ihren Auftritt großen bekommen, bevor sie sich mit ihren Flügelchen in höhere Sphären absetzen darf. Ich denke drüber nach. LG von G
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*schmunzel*
Sie muss ihre Flügelchen noch ausbreiten können,
so schön,wie sie ausschaut
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Liebe Gerda, diese Wendung gefällt mir sehr – wie ja überhaupt das gesamte Personal, das sich bei dir eingefunden hat! Viele Grüße und ein schönes Wochenende!
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