Tom und Martha (3)

Liebe FreundInnen des geschichtengenerators http://juttareichelt.com/in Aktion . Ihr habt in letzter Zeit allerlei Leute mitsamt ihren Geschichten kennengelernt, davon einige, die ich aufgeschrieben habe. Da waren der bleiche John, der gerne ein moderner Maler sein wollte, und Nina, die aus ihrer eigenen Gaststätte floh, weil sie die Kommentare ihrer Gäste nicht ertrug, da waren das Modell Luise und ihr bitteres Ende, Flo der Sprayer und Erkan, den sie als Hauptverdächtigen an einem Mord einsperrten, da waren der Polizeimann Manfred, der um seine Beförderung kam, und Emma, die als Kunsttherapeutin auf John angesetzt wurde, welchselber in der Psychiatrie landete (Genie und Wahnsinn liegen eben nah beieinander), da war ein anderer Erkan, Arzt und Abteilungschef in der Psychiatrie und lebhaft an Emma interessiert, da war eine andere Emma, Verkäuferin an einer Käsetheke im Supermarkt, die den schwarzen Dichter Victor kennen und lieben lernte … und nun sind wir bei Tom und Martha. Zwei Mal habe ich schon von ihnen erzählt, dies ist die dritte Folge. Es wird auch die letzte sein, denn manche Geschichten muss man einfach abbrechen. Man darf sich nicht länger mit den Protagonisten befassen, denn irgendwann ist es  an ihnen selbst, eine Lösung für ihre Probleme zu finden. Wer bin ich, sie ihnen zu diktieren?

Und wenn ich ganz ehrlich bin: bei Tom und Martha handelt es sich um Charaktere, die mein Interesse schneller erschöpfen als all die anderen, denen meine Sympathie und sogar Liebe weiterhin gehört, auch wenn ihre Geschichten nun nicht mehr erzählt werden.

Hier also noch ein letztes Mal: Tom und Martha.

 

Tom und Martha (3)

Tom sah den Film nicht bis zu Ende an. Zu öde. Ein paar Minuten zappte er sich noch durch ein paar Kanäle, dann gab er auch das auf, legte die Fernbedienung zur Seite, lehnte sich zurück, blickte an die Decke. Schlafen gehen? Es war noch früh. Nicht mal elf. Seufzend hievte er sich aus dem Sessel hoch, um ins Bad zu gehen. Durch die Schlafzimmertür hörte er Marthas lautes Schluchzen. Einer ihrer hysterischen Anfälle, die sie immer kriegte, wenn sie mal zusammen ausgegangen waren. Erst ihr ständiges „Ich muss zur Toilette“ und dann Kritik und Heulkrampf. Also nicht ins Bett gehen. Bad. Zurück zum Fernsehsessel. Oder doch lieber Zeitung. Ach was, die Nachrichten ödeten ihn an. Alles ödete ihn an.

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Unschlüssig ging er durchs Zimmer, blieb vor dem Fenster stehen, überprüfte, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, ob es auch in den Ecken geputzt war – ja, war es -, schaute hinüber zum gegenüberliegenden Wohnblock, hinunter auf die Straße. Seine Gedanken waren unruhig. Beunruhigt. ‘Wie konnte ich den Schlüsselbund vergessen. Mich selbst ausschließen und wie ein Esel im Treppenhaus rumstehen, bis dieser junge Mann von unten mit seinem Werkzeugkasten ankam. Albaner aus dem Kosovo, redete wie ein Buch, erzählte seine ganze Lebensgeschichte, während er am Schloss rumprokelte. Seit zehn Jahren in Deutschland, mit den Eltern, liebt die Deutschen, ist mit einer Frau aus Albanien verheiratet, seine Schöne ist schwanger, erstes Kind, wird ein Sohn. Na, meinetwegen. Wunderbar. Gratuliere. Sehr nett von Ihnen. Das Schloss machte ihm nicht wirklich Probleme, das sah man. Er tat nur so und redete dabei wie ein Wasserfall. Damit er keinen Verdacht auf sich zog, nehme ich an. Ist kein so gutes Gefühl, wenn unter dir jemand wohnt, der ein stinkteures Sicherheitsschloss in einer Sekunde geknackt hat. … Neuerdings passieren mir solche Sachen. Heute habe ich vergessen, Bestellungen gleich einzutragen, und hinterher fiel mir der Name des Kunden nicht ein. schuld sind die neuen Techniken, diese ganzen Ausdrücke. Jimmy, ja, der versteht was davon, hat den Internet-Verkauf angekurbelt. Dem habe ich das Handwerk von der Pieke an beigebracht, aber was soll er jetzt noch damit. Alles ändert sich so schnell. Ich versteh schon, dass er abgehauen ist, ich bin halt ein altmodischer Videohändler.

IMG_5974aAber dass er auch gleich die Hälfte der Kundschaft mitgenommen hat, finde ich doch erbärmlich. War sowieso schon nicht mehr viel los im Geschäft, und seit Jimmy weg ist, ist es fast ganz aus. Videotheken sind einfach out. Sackgasse. Die alten Kunden sterben oder verblöden und verschwinden in Altersheimen, neue kommen selten mal über die Schwelle. Außer Ausländern, da kommen einige, seit ich auch ausländisches Zeug im Programm habe. Aber die werden schon bald selbst auf den Trichter kommen und eine Videothek mit arabischen und indischen Titeln gleich um die nächste Ecke aufmachen. Wie die Türken schon längst. Die ganz harten Sachen gehen auch immer mal, aber meistens werden sie von Jugendlichen verlangt, und mit dem Jugendschutz lege ich mich nicht an. Es gefällt mir auch nicht, ehrlich gesagt, was da so alles produziert wird.’

Toms Gedanken liefen im Kreis, kehrten immer wieder zurück zu seiner zunehmenden Vergesslichkeit, die ihn sehr beunruhigte. Wahrscheinlich war er einfach nur überanstrengt. Die wirtschaftlichen Sorgen, von denen Martha keine Ahnung hatte, zermürbten ihn. Immer wollte sie in Urlaub fahren, dies und das unternehmen, neue Sachen anschaffen, den Kindern große Geschenke machen, ohne nach den Kosten zu fragen. Henry, sein Ältester, studierte schon seit Jahren angeblich BWL, doch anstatt endlich mal mit einem Examen rüberzukommen und ihm im Geschäft zu helfen, eröffnete er letztlich dem verdutzten Vater, dass er anders disponiert habe. Online-Poker, sagte er. Keine riesigen Einsätze, alles im Rahmen und unter Kontrolle. Manchmal fahre er auch zu Wettbewerben, um sein Profil zu verbessern. Dieser Junge. 24 und reist durch die Welt, als wär er Millionär. Und Susi? Die will unbedingt ans Theater oder lieber noch zum Film. Braucht ne Menge Geld für ihre Ausbildung, dazu auch die eigene Wohnung, all das. Bis die mal selbst Geld verdient. Hübsch ist sie allerdings und auch begabt. Hat schon früh mit Singen und Tanzen angefangen und im Schultheater schwierige Rollen übernommen. Da hat er sie dann sehr gelobt, und auch Martha war mächtig stolz auf ihr Töchterlein und hat ihr die Flausen mit der Schauspielausbildung in den Kopf gesetzt. Ganz unschuldig war er selbst wohl auch nicht. Kino, Filme, das war ja seine Leidenschaft gewesen, da hat er sie mit angesteckt.

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Ob Martha inzwischen schlief? Hoffentlich. Tom fühlte eine schwere Müdigkeit und hatte Sehnsucht nach seinem Bett. Aber keinesfalls wollte er riskieren, dass sie ihn jetzt mit ihren Geschichten traktierte. Er hatte nicht den geringsten Bock auf Grundsatzdebatten, wie sie sie so gern führte, besonders dann, wenn er sowieso schon fertig war. Sie war ziemlich wütend gewesen heute abend, hatte sich nicht mal verabschiedet. Ob er sich auf das Sofa legen sollte? Aber dann bestand die Gefahr, dass sie mitten in der Nacht antanzte und ihm die Leviten las. Weil er die Schlüssel im Schloss vergessen hatte, weil sie zu fremden Leuten auf die Toilette musste, und überhaupt. Lieber wartete er noch ein bisschen ab und schlich sich dann leise in sein Bett. Morgen früh würde sie sich wohl abgeregt haben.IMG_5973

 

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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10 Antworten zu Tom und Martha (3)

  1. mannigfaltiges schreibt:

    Schöne Geschichten und vor allem gut geschrieben.
    Aber mit diese Retortenstorys kann ich leider wenig anfangen.Nicht böse sein.
    Übrigens, was ich schon lange mal fragen wollte: Kennt Du Nikos Kavvadias? Ich habe sein Buch „Die Wache“ und ein paar Gedichte (vermutlich eher schlecht ins Deutsche übersetzt) von ihm gelesen. Irgendwie gefällt er mir.

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  2. gkazakou schreibt:

    Danke für dein Interesse und den Tipp! Du hast schon recht, sie Retortengeschichten zu nennen. Sind halt Fingerübungen, die mir zusammen mit den Legebildern Spaß machen. Wenn ich länger über die Figuren nachsinne, nehmen sie Leben an, und ich könnte ganze Romane über sie schreiben. Das ist eine interessante Erfahrung. Zu Kavvadias: ich kenne nur ein paar Gedichte von ihm. Heute war eigentlich griechische Dichtung angesagt, aber ich habe jetzt keine Lust mehr zum Schreiben. Ich werde ihn bei Gelegenheit mal vorstellen. Gute Nacht! Gerda

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  3. Martina Ramsauer schreibt:

    Mit deinen Geschichten erzaehlst du uns doch von den immer wieder auftauchenden Probleme in unserer Gesellschaft oder leide ich vielleicht bereits unter Altsheimer! Ich wuensche dir, liebe Gerda, eine gute Woche.

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    • gkazakou schreibt:

      O ja, Martina, ich versuche schon, mit meinen Geschichten reale Probleme aufzuzeigen, auf teils spaßige, teils ernste Art. die „Figuren“ werden mir lebendig, so sehr, dass ich meine, sie könnten mir auf der Straße begegnen. Sie liegen mir also schon am Herzen – es ist aber doch anders, wenn man „mit Herzblut schreibt“, also es aus sich selbst gebiert und wie sein eigenes Kind liebt. Ich glaube, das meinte mannigfaltiges mit „Retortengeschichte“.

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      • gkazakou schreibt:

        Noch mal, Martina! Ein bisschen ausführlicher habe ich weiter unten auf Ullis Antwort kommentiert. Liebe Grüße aus dem Land der Hellenen. Gerda

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  4. juttareichelt schreibt:

    Liebe Gerda, ich hatte Freude an dieser Geschichte und fast noch mehr an der wunderbaren Aufzählung zu Beginn: Was für ein tolles, buntes Personal in der kurzen Zeit zusammengekommen ist!

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    • gkazakou schreibt:

      danke dir, Jutta, ganz herzlich. Ja, „die Welt ist bunt und rund … „, wie es in einem zu meiner Zeit sehr populären Kinderliedchen heißt (O Susanna – da du die Schmuddelkinder kennst, kennst du es sicher auch:)

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  5. Ulli schreibt:

    liebe Gerda, nun hängt also die Geschichte lose im Raum, wir dürfen sie weiterdenken und das ist gut!
    Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber ganz ehrlich … ich freue mich wieder auf deine Bilder, deine Lebensgeschichten, dein Wissen …
    liebe Grüsse
    Ulli

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    • gkazakou schreibt:

      Wieso solltest du das nicht sagen? Mir geben solche Rückmeldungen Spaß am Weitermachen! Und solange es mir und dir und noch dem und jenem Spaß macht, tue ich es auch.
      Manche Themen würde ich gern vertiefen. So geht mir die Geschichte vom ewig bleichen John nicht aus dem Sinn, zumal ich ihm ja eine schwergewichtige Biografie verpasst habe. Und auch Luise würde ich gern noch mal durch ihr Leben begleiten und versuchen zu verstehen, warum sich die beiden trafen und warum dies Treffen so tragisch ausgehen musste. Aber das ist Romanstoff – mindestens 700 Seiten ;).
      Auch die Geschichte von Victor und Emma hat noch viel „Fett“ – die ganze elende Geschichte des Kongo, der Sklaverei und des Kolonialismus steckt dadrin, dazu auch die spannende Umkehrung: Victor ist der Gebildete, der die europäische Dichtung liebt und versteht und weiterführt – zugleich ist er ein schwarzer Bettler im weißen Land, wo ihm eine einfache weiße Frau mit geringer Bildung wie ein Engel erscheint (seine Taube).
      Das dritte Thema, das mich interessiert, ist die Bearbeitung des „Falls Victor“ durch die Psychiatrie. Warum? In meiner Doktorarbeit habe ich herausgearbeitet, wie aus dem persönlichen Gesprächsmaterial in einer Beratungssituation eine Fallgeschichte produziert wird, die den Gesetzen der Behörden gehorcht und als Zwang auf den Klienten zurückschlägt wie ein schlecht angepasster Gips auf einen gebrochenen Arm ….

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