Luise, 7. Fortsetzung: In der Psychiatrischen Klinik.

7. Fortsetzung meiner Geschichte, die angeregt wurde durch Juttas geschichtengenerator. Die Stichwörter: (Luise) – John – Emma – Erkan – Kantine – (verliebt?)

Emma T,  eine blondierte, ein wenig mollige und stark geschminkte Brünette unbestimmten Alters, schlängelt sich, ein Tablett mit Toast und Kaffee im Plastikbecher in den Händen und einen Dossier unter dem Arm, zwischen den Tischen der Kantine hindurch zum Fenster, wo sie ein freies Tischchen entdeckt hat. Ärzte, Psychologen und Pflegepersonal nutzen die Mittagspause, um schnell einen Happen zu essen, Stress abzubauen oder sich mit Kollegen zu besprechen. Emma genießt gewöhnlich die Geplänkel zwischen Tür und Angel, doch heute will sie allein sein. Sie hat Arbeit. Kaum sitzt sie, öffnet sie den Dossier. Welch ein Glück, dass der Chef ihr den Fall John M zugespielt hat, denkt sie und beißt herzhaft in den Toast. Der Fall ist vielschichtig und viel versprechend, genau das, was ihr für ihre kunsttherapeutische Diplomarbeit noch fehlte.

Im Dossier befinden sich neben einigen Formblättern und handschriftlichen Notizen farbige Zeichnungen, die ihr Patient angefertigt hat. Das Thema, das sie gestellt hatte, war: „Meine Familie“. Zuerst hatte er eine recht karge Zeichnung angelegt. Eine Szene am Strand. Auf Befragung benannte er die Personen. Der großer Junge, das sei er selbst, John. Er ist zwölf und spielt mit einem selbst gebauten Boot. Er trägt Mütze und  Jacke, da er nicht an die Sonne darf. Seine Mutter und sein Vater liegen links im Bild im Schatten einer flachen Höhle. Im Hintergrund spielen zwei braungebrannte, sportliche Jungen Ball. Eine Frau sonnt sich. Ein kleines Mädchen mit Hut und Kleidchen steht im Schatten und wartet. IMG_5926fff

Ein fröhliches, friedliches Bild, wäre da nicht das auffallend weiße Gesicht des Jungen und die Aura von Einsamkeit, die ihn umgibt. Auch das kleine Mädchen wirkt einsam. Frage: „Warum durften Sie nicht an die Sonne?“ Antwort: „Ich habe von meiner Mutter eine Sonnenallergie geerbt.“

Emma überliest noch einmal die Anamnese, die die Kollegen von der Erstaufnahme angefertigt haben.

John M, 65, Kunstmaler. Geboren in Bristol, England. Mutter englisch-italienischer Abstammung, Vater Deutschjude aus der Tschechoslowakei.

Johns Vater, gebürtig in Prag, wurde als Zwölfjähriger nach England verschickt. Schicksal seiner Eltern (John’s Großeltern väterlicherseits) unbekannt.

Johns Mutter, geboren in Bristol, Engländerin,  Inhaberin eines gut gehenden Segelmacher-Betriebs, den sie von ihrer Mutter (Johns Großmutter mütterlicherseits) geerbt hatte. Zehn Jahre älter als ihr Mann, hat ihn aber um etliche Jahre überlebt. – Vater der Mutter:  Italiener, Segelmacher,  Mutter der Mutter: Engländerin. Inhaberin des Betriebs und ebenfalls älter als ihr Mann.

Geschwister: nicht bekannt.

Art des Suicids: J.M. öffnete sich die Pulsader der rechten Hand (er ist Linkshänder) mithilfe eines Spiegelscherbens.

Grund für den Suicid: nicht bekannt. Frühere Suicid-Versuche: nicht bekannt.

John M macht einen verschlossenen Eindruck, ist wenig kooperativ. Er beklagt sich über eine Frau, die ihn heimlich besucht und ihm befiehlt, Dinge mit ihr zu treiben, die er sittlich verwerflich findet. Er bat darum, den Spiegel aus dem Bad zu entfernen, da diese Frau durch den Spiegel zu ihm hereinkomme. Auch bat er darum, alle gelben Gegenstände zu entfernen, da er Gelb nicht ertragen könne. Er wurde bisher von niemandem besucht, machte auch keine Angaben über Personen, die benachrichtigt werden sollten.    IMG_5809tt

Vorläufige Diagnose: Depressiver Schub bei vorhandener psychotischer Symptomatik.

Hm, denkt Emma, er kann Gelb nicht ertragen, aber auf seinem Bild gibt es genug davon. Zum Beispiel hat seine Mutter ein gelbes Gesicht. Beim nächsten Bild, das eine farbige Überarbeitung des ersten darstellt, hat das Gelb fast das ganze Bild überschwemmt. Besonders um den Kopf des Jungen wabert eine gelbe Lohe. Sie beschließt, ihn danach zu befragen.  IMG_5926ddd

Emma lehnt sich zurück, schaut aus dem Fenster. Jüdischer Hintergrund, denkt sie. Hat seine Abneigung gegen Gelb damit zu tun? Mit dem gelben Judenstern? Johns Vater kam aus Prag, eine Kinderverschickung rettete ihm das Leben. Er heiratete in einen örtlichen Betrieb ein. Seine Frau war viel älter als er und nicht gesund. Vermutlich eine Zweckehe. Schon die Mutter der Mutter hatte einen jüngeren Mann geheiratet, der in abhängiger Position und Ausländer (Italiener, Segelmacher) war.  Gab es Geschwister? Was ist mit dem kleinen Mädchen? Welche Bedeutung hat sie? „Keine“, antwortete John auf ihre Frage hin, und guckte finster. „Muss alles eine Bedeutung haben?“

„Ich bin Maler“ – das ist sein Kommentar, wenn sie nach dem einen oder anderen Detail seines Bildes fragt. Die meisten Patienten zeichnen wie kleine Kinder: Mama, Papa, Haus, Hund, Sonne, Wolken. Da kann man dann mit arbeiten. John aber erklärte, dass man seine Bilder als Kunstwerke zu betrachten habe. Eine psychologische Deutung findet er geradezu beleidigend. Und doch scheint ihr das  Bild voller Hinweise auf seinen seelischen Zustand zu stecken.

Und dann sind da noch die anderen Zeichnungen. Er zeigte sie ihr mit einem gewissen Stolz. Er sei auf den Spuren von Max Beckmann fündig geworden.

Gemälde / Öl auf Leinwand (1944) von Max Beckmann Max Beckmann,1918-19, Die Nacht

Seine Kunst mache seither große Fortschritte.Beckmann Die Nacht, Detail

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Emma betrachtet sie mit Neugierde und einem Schuss Widerwillen. Und denkt: Zum Glück ist die Diagnose Chefsache. Ich werde Dr. Y. die Sachen zeigen, mal sehen, was er dazu meint.

In diesem Augenblick sieht sie ihren Chef mit einer Gruppe von Weißkitteln über den Rasen kommen. Dr. Erkan Y, Facharzt für Psychiatrie, ist ein sehr gut aussehender Mann, und er weiß es. Hochgewachsen, breitschultrig, das Haar noch voll, überragt er die meisten seiner Kollegen. Er betritt die Kantine und schaut sich wie ein römischer Gladiator im Saal um, grüßt hier, grüßt da. Als er jovial zu ihr herüberwinkt, wird sie ein wenig rot. Wenig später steuert er seine Gruppe an den Tisch gleich neben dem ihrem. Emma überprüft innerlich ihr Aussehen, das ihr plötzlich außerordentlich wichtig wird. Ist ihr Haar nicht einen Ton zu stark blondiert? Sind die Hacken ihrer Schuhe nicht eine Spur zu hoch? Liegt der Pullover nicht ein wenig zu eng an? Leider lässt sich der Rettungsring, der sich um ihre Taille angesammelt hat, nicht verleugnen. Nach abgeschlossener Prüfung erhebt sie sich, nimmt ihren Aktendeckel und grüßt den Herrn Doktor mit ihrem schönsten Lächeln. „Leider ruft die Arbeit“, flötet sie. „Wir sehen uns ja nachher in der Besprechungsrunde“. Geschwind dreht sie sich um und schlängelt sich durch die Tischreihen. Sie hat das sichere Gefühl, dass er ihr nachsieht, und das gibt ihren Bewegungen einen besonderen Schwung. Dr. Erkan Y, denkt sie. Er ist Türke, die mögen so was.

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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6 Antworten zu Luise, 7. Fortsetzung: In der Psychiatrischen Klinik.

  1. waehlefreude schreibt:

    Ein Stückchen Stationärpsychiatrie „life“… 😉

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  4. juttareichelt schreibt:

    Liebe Gerda, eigentlich dachte ich, alle Beiträge nachgelesen zu haben, die während meines Urlaubs im Februar entstanden sind, aber dieser ist ganz offenbar durchgerutscht und nun bin ich sehr froh, dass er in dem feinen Textgewebe, welches du spinnst, wieder aufgetaucht ist, denn er gefällt mir sehr!

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  5. gkazakou schreibt:

    so ist das, wenn man Geschichten im Blog schreibt – die Textstücke liegen weit auseinander, der Faden geht verloren, wichtige Stücke fehlen. Eigentlich widerstrebt es mir, all diese links zu setzen (es müssten sogar noch mehr sein, um den Text samt vorwegnehmenden Anspielungen komplett zu erinnern). Ich selbst habe zum Glück noch einigermaßen den Überblick 🙂

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