Heinrich Heine, Das Seegespenst

Idee:
„Baladenwochenende“: Christiane von

https://365tageasatzaday.wordpress.com/2017/01/13/aufruf-balladenwochenende-die-brueck-am-tay/

blog_goes_ballade

Ich habe keine Ahnung, ob dies Gedicht von Heine als Ballade durchgeht. Immerhin benutzt er ein tatsächliches Vorkommnis, das sich für eine Ballade bestens eignet: das Versinken der Stadt Vineta bei Rügen – oder auch bei Usedom oder ….

Ich hab dazu schon mal einen Blog-Beitrag geschrieben, kannst du hier alles nachlesen.

https://gerdakazakou.com/2015/06/06/der-poet-und-die-versunkene-stadt-vineta/

und über das, was zu diesem Vineta sonst noch gemunkelt wird, informiere dich hier.

vineta, mythos und geschichte

the-poetHeinrich Heine

Seegespenst

Ich aber lag am Rande des Schiffes,
Und schaute, träumenden Auges,
Hinab in das spiegelklare Wasser,
Und schaute tiefer und tiefer –
Bis tief, im Meeresgrunde,
Anfangs wie dämmernde Nebel,
Jedoch allmählich farbenbestimmter,
Kirchenkuppel und Türme sich zeigten,
Und endlich, sonnenklar, eine ganze Stadt,
Altertümlich niederländisch,
Und menschenbelebt.
Bedächtige Männer, schwarzbemäntelt,
Mit weißen Halskrausen und Ehrenketten
Und langen Degen und langen Gesichtern,
Schreiten, über den wimmelnden Marktplatz,
Nach dem treppenhohen Rathaus,
Wo steinerne Kaiserbilder
Wacht halten mit Zepter und Schwert.
Unferne, vor langen Häuserreihn,
Wo spiegelblanke Fenster
Und pyramidisch beschnittene Linden,
Wandeln seidenrauschende Jungfern,
Schlanke Leibchen, die Blumengesichter
Sittsam umschlossen von schwarzen Mützchen
Und hervorquellendem Goldhaar.
Bunte Gesellen, in spanischer Tracht,
Stolzieren vorüber und nicken.
Bejahrte Frauen,
In braunen, verschollnen Gewändern,
Gesangbuch und Rosenkranz in der Hand,
Eilen, trippelnden Schritts,
Nach dem großen Dome,
Getrieben von Glockengeläute
Und rauschendem Orgelton.

Mich selbst ergreift des fernen Klangs
Geheimnisvoller Schauer!
Unendliches Sehnen, tiefe Wehmut
Beschleicht mein Herz,
Mein kaum geheiltes Herz; –
Mir ist, als würden seine Wunden
Von lieben Lippen aufgeküßt,
Und täten wieder bluten –
Heiße, rote Tropfen,
Die lang und langsam niederfalln
Auf ein altes Haus, dort unten
In der tiefen Meerstadt,
Auf ein altes, hochgegiebeltes Haus,
Wo melancholisch einsam
Unten am Fenster ein Mädchen sitzt,
Den Kopf auf den Arm gelehnt,
Wie ein armes, vergessenes Kind –
Und ich kenne dich armes, vergessenes Kind!

So tief, meertief also
Verstecktest du dich vor mir,
Aus kindischer Laune,
Und konntest nicht mehr herauf,
Und saßest fremd unter fremden Leuten,
Jahrhundertelang,
Derweilen ich, die Seele voll Gram,
Auf der ganzen Erde dich suchte,
Und immer dich suchte,
Du Immergeliebte,
Du Längstverlorene,
Du Endlichgefundene –
Ich hab dich gefunden und schaue wieder
Dein süßes Gesicht,
Die klugen, treuen Augen,
Das liebe Lächeln –
Und nimmer will ich dich wieder verlassen,
Und ich komme hinab zu dir,
Und mit ausgebreiteten Armen
Stürz ich hinab an dein Herz –

Aber zur rechten Zeit noch
Ergriff mich beim Fuß der Kapitän,
Und zog mich vom Schiffsrand,
Und rief, ärgerlich lachend:
Doktor, sind Sie des Teufels?

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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10 Antworten zu Heinrich Heine, Das Seegespenst

  1. Christiane schreibt:

    Vineta: versunken aus Mangel an Demut, ähnlich wie Belsazar, der es auch an Respekt fehlen ließ und frevelte. Danke für das Seegespenst (von dem ich auch nicht weiß, ob es unter „Ballade“ fällt), mir war nicht klar, dass es sich auf Vineta bezieht.
    Schön und auch danke, dass du mitmachst!
    Liebe Grüße
    Christiane

    Gefällt 3 Personen

  2. mmandarin schreibt:

    Soooo schön diese Ballade, Danke dafür, Marie

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  3. Ulli schreibt:

    Ach, was für ein liebend Lebensmüder, gut, dass der Kapitän da war!
    Und gut, dass du Heine in die Balladenrunde aufgenommen hast- danke dir
    hab einen schönen Sonntag
    herzlichst
    Ulli

    Gefällt 1 Person

  4. bruni8wortbehagen schreibt:

    toll, diese Heine-Zeilen, liebe Gerda.
    Eine Ballade? Hm, ein zwittriges Geschöpf, so kommt es mir vor und eher wie ein Epos.
    Aber keine Ahnung, vielleicht ist das alles falsch.
    Egal, seine Worte sind ein sehr großes Gedicht!

    Liebe Sonntagsgrüße von Bruni

    Gefällt 1 Person

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