Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Der Narr traumwandelt auf Dächern mit Elpis (Hoffnung) in der Hand
William Shakespeare, Macbeth:
Tomorrow, and tomorrow, and tomorrow
Creeps in this petty pace from day to day
To the last syllable of recorded time.
And all our yesterdays have lighted fools
The way to dusty death. Out, out, brief candle.
Life’s but a walking shadow, a poor player
That struts and frets his hour upon the stage,
And then is heard no more. It is a tale
Told by an idiot, full of sound and fury,
Signifying nothing.
O ja, ich kann diese Zeilen auswendig, habe sie in frühster Jugend gelernt. Es ist die zynische Bilanz von Macbeth, als ihm der Tod seiner Frau gemeldet wird. Sinnlosigkeit pur. „Das Leben ist nichts als ein wandernder Schatten, ein armer Schauspieler, der sich auf der Bühne abmüht und von dem man dann nichts mehr hört. Es ist eine Geschichte, die ein Idiot erzählt, voller Lärm und Wut, ganz ohne Bedeutung.“
Dies war, als ich 16 war, so ziemlich meine Lebenseinstellung. Vielleicht war es auch nur eine Pose, wie Jugendliche sie gern einnehmen. Danach wurde es ernster und es begann die verzweifelte Sinnsuche. Denn einen Sinn musste es geben! Doch worin könnte er bestehen?
Ich las damals viel. Eines der prägendsten Bücher war Robert Musils (1880-1942) „Der Mann ohne Eigenschaften“, bei dem der Protagonist sich „auf die Suche nach sinnvoller und ihn ausfüllender beruflicher und privater Existenz“ macht – und als das nichts wird, sich mit der Schwester „auf die Suche nach einem anderen Zustand von „tagheller Mystik“ begibt“, wie Wiki zusammenfasst. Musil selbst sah im Rückblick (auf die Vorgechichte des 1. Weltkriegs) „eine Folge von Stufen, die von verschiedenen Treppen herrührten und zu einer neuen Gestalt verarbeitet werden mußten.“ (Quelle).
Ein anderes mit 17 sehr wichtiges Buch war „Der Zauberberg“ (1924) von Thomas Mann (1875-1955), der damit endet, dass der schlafwandelnde Protagonist durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu sich kommt. Für mich hatte das Buch auch praktische Folgen: Als bei mir eine Tbc diagnostiziert wurde, lehnte ich entschlossen den angesonnenen Sanatoriumsaufenthalt ab: ich wollte nicht verzaubert werden, denn ich fürchtete, nie mehr aus dem Traum entlassen zu werden, es sei denn durch einen neuen Krieg. Ich wollte mit offenen Augen leben.
Was ich sah, gefiel mir in der Regel bestenfalls halbwegs. Ich heftete an jede positive Wahnehmung ein „ABER“ – und tue es, so fürchte ich, auch heute noch. Nichts ist so, wie es scheint. Die Oberfläche trügt. Der gutmütige Mann trug womöglich eine Maske, hinter der sich eine dunkle Vergangenheit verbarg. Ich war gewarnt. All die Menschen um mich herum – hatten sie das große Verbrechen nicht mitgetragen, vielleicht sogar bejubelt? Als ich klein war, schrieb man mir ins Zeugnis „aufgeschlossen für alles Wahre, Gute und Schöne“ – ja, das war ich wohl, wie die meisten Kinder, doch schaute man ins Innere des Menschen, so sah man darin allerhand Schändliches verborgen.
Das war irgendwann für mich ok. Ja, so waren die Menschen. Ich begann, sie so zu akzeptieren, wie wie waren. An die Stelle des Nihilismus, der im Grunde ein Ergebnis enttäuschter Illusion ist, trat ein freundschaftlicher Realismus. Die Honoratioren kamen nicht besonders gut dabei weg, ich neigte mehr denen zu, die am Rande standen und die sich mir eher als Opfer denn als Täter darstellten: Zigeuner (ja, so hießen sie damals noch), jugendliche Straftäter, Heimzöglinge, auch scheiternde Studenten. An die Stelle der Germanistik und Romanistik traten die Sozialpädagogik, die Jugendhilfe, die Beratung in schwierigen Lebensverhältnissen, die Kritik an den Institutionen. Auch das ist mir bis heute geblieben.
Das war natürlich nicht das Ende der Sinnsuche. Endlich eine gelungene Liebesbeziehung, ein Kind. Ich begann zu malen. In der Kreativität sich selbst finden und sich anderen mitteilen. Ja, das funktioniert bis zu einem gewissen Grad. Aber es bleibt ein Rest. Eine Unruhe bleibt und hält die Frage nach dem Sinn offen. Mit diesem Rest bin ich nun vor allem befasst. Der Blick geht in die Weite der Zeit und des Raums. Ich versuche zu verstehen, wie sich die Menschheit entwickelt hat und weiter entwickelt, die großen Linien zu verstehen. Welches war und ist mein Beitrag? Welches ist der Beitrag der Menschheit zum Schicksal der Erde und des ganzen Kosmos? Es geht mich an, denn ich bin ein Teil davon. Und der Sinn, den ich meinem Leben gebe, ist ein Beitrag zum allgemeinen Sinn.
Es bleibt richtig: „All unsere Gestern haben uns gleich Narren zum staubigen Tod geführt“, wie Macbeth sagt. Das ist unausweichlich. Wir sterben, jeder für sich, und am Ende fühlt man sich wie ein Narr. Und doch: Der Sinn, den ich meinem Leben geben konnte, ist ein Beitrag zum allgemeinen Sinn, zur Richtung, in der sich die Menschheit bewegt. Auch mein Leben ist in die große Geschichte eingeschrieben.

Der Blumennarr unterwegs im Stadtwald
Macbeth hat mich auch fasziniert. Karla war sechs, als sie als kleines Hexenmädchen über die Bühne des Opernhauses huschen dürfte. Meine Liebe zu Shakespeare begann und zu Verdi.
Spannend etwas über deine berufliche Laufbahn zu lesen, über die Suche nach dem Sinn. Die Unruhe die bleibt.
Mit offenen Augen leben. Gerade jetzt fällt das nicht leicht austarieren zwischen zu viel und zu wenig. Zerstreuung und Konzentration.
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Lieben Dank, Xeniana, kleine Ergänzung zur „Autobiografie“ gefällig? Opern kannte ich als Kind höchstens aus dem Volksempfänger. Die erste besuchte Oper war Der Freischütz von Carl Maria von Weber, ich sah und hörte sie vermutlich mit 14 bei den Eutiner Festspielen. Mit 16 oder so hörte ich die Zauberflöte in Lübeck – und sah nur die Füße der Königin der Nacht, denn ich hatte einen Platz im „Paradies“. Ich hatte die 70 km mit dem Fahrrad geschafft! Das waren meine Opern-Erfahrungen. Mit Theater sah es nicht besser aus, aber ich hatte schon mit 15 alle Dramen von Shakespeare gelesen – auf Englisch! Und wollte „Dramaturgin“ werden.
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