Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Das Lied Freiheit, die ich meine… fällt mir spontan ein, aber den weiteren Text kenne ich nicht und suche ihn bei Wikipedia auf. Es ist ein 15-strophiges Lied, sehr fromm, naturverbunden-sehnsuchtsvoll und vaterlandsliebend-deutschtümelnd. Max von Schenkendorf (1783–1817) erdichtete es im Jahre 1813 (Erstveröffentlichung 1815). Die Melodie dazu schrieb der evangelische Geistliche Karl August Groos (1789-1861) und machte es damit zum Volkslied.
Entstanden im Geist der „Freiheitskriege“ (Völkerschlacht von Leipzig 1813) gegen die Napoleonische Besatzung wurde es zum Lieblingslied der nachfolgenden deutschen Regime, bis hin zum preußischen Kaiserreich und drüber hinaus. In der sozialdemokratischen Fassung (1891) von Max Kegel (1850-1902) fehlen die Strophen 4. und 6. und der religiöse Anteil ist entfernt, So heißt es statt „Gott“ „Freiheit“, zB „Wo sich Gottes Flamme“ wurde ersetzt durch „Wo der Freiheit Flamme“ …, das deutsch-nationale Element blieb hingegen erhalten.
Die übliche achtstrophige Fassung (s.o.) empfahl das preußische Kulturministerium 1912 für den Schulunterricht der 7.-8. Klassen. 1933 fand das Lied Aufnahme im SA-Liederbuch. Auch nach dem Krieg fand insbesondere die erste Zeile vielfältigste Verwendung in der Werbung, im Musikbetrieb, in der rechten und in der linken politischen Szene….und daher kenne ich sie auch. Jeder meinte natürlich eine andere Freiheit.
Das Original-Gedicht als screenshot:
Die Melodie ist so eingängig, dass sie für weitere Gedichte Verwendung fand, so für die geistliche Umdichtung Freiheit, die ich meine, ist kein Schattenbild (1847) des pietistischen Pädagogen Christian Heinrich Zeller (1779-1860), für das sehnsuchtsvolle „Pommernlied“ (Nationalhymne Pommerns) „Wenn in stiller Stunde“ (1850) des lutheranischen Geistlichen Gustav Adolf Pompe (1831-1889) und für „Abend wird es wieder“ des Germanisten August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874), dem wir auch das „Lied der Deutschen„ (1841) verdanken, das er anlässlich der sog. Rheinkrise auf Helgoland dichtete (es ging um die umstrittenen Gebietsansprüche Deutschlands und Frankreichs am Rhein) und das er nach Joseph Haydns (1732-1809) Melodie zu „Gott erhalte Franz den Kaiser“ gesungen wünschte. Die dritte Strophe, in der bekanntlich ebenfalls von Freiheit die Rede ist, wird bis heute als Nationalhymne nach Haydns Melodie für den Kaiser Franz gesungen:
Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand –
Blüh im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland!
Nun aber zurück zur „Freiheit, die ich meine“. Das ist ja die kritische Frage: welche Freiheit meine ich? Max von Schenkendorf meint zum einen die Freiheit, sich aus der steinernen Welt der Großstadt entfernen und sich am Busen der Natur und liebender Freunde frei fühlen zu können (Strophen 3-5, 11). Zum anderen meint er die innere Glaubensflamme, die durch den Aufblick zu den Sternen und das „Hirtenkind“ (Jesus) entfacht und in vaterländischen Heldentaten zum hellen Entflammen gebracht wird. Freiheit ist ein „holdes Wesen, gläubig, kühn und zart“, das sich auf „deutsche Art“ köstlich reimt.
Das also ist der Freiheitsbegriff, der am Anfang der deutschen nationalen Einigung stand. Er klingt bis heute in vielen deutschen Herzen nach und wird bei sportlichen Großereignissen wie zuletzt bei der Basketball-Europameisterschaft mit Inbrunst besungen. Andererseits herrscht heute in Deutschland ein vollkommen anderer individueller Freiheitsbegriff vor, der am ehesten als Freiheit der Wahl zwischen Gütern, Lebenswegen, Glaubensbekenntnissen und Geschlechtern zu bezeichnen wäre. Die Gleichzeitigkeit so verschiedener Freiheitsbegriffe führt zu starken Spannungen bis hin zu dem, was neuerdings als „Kulturkampf“ bezeichnet wird.
Der nationale Freiheitsbegriff wird, da er nicht tot zu kriegen ist, nun gerade von Deutschen, die ihn in Deutschland selbst für anrüchig halten, auf andere Nationen projiziert, die ihn kämpferisch durchsetzen wollen. Die Ukraine ist die aktuellste Projektionsfläche für diese heimlichen „patriotischen“ Gelüste, denn dort kann man, ohne in Verdacht rechten Gedankenguts zu geraten, unter Symbolen faschistischer Aktivisten und nationalistischer Parolen „unsere Freiheit“ verteidigen.


„Unsere Freiheit verteidigen“, in diesem Sinne nicht mit mir!
Die es aber in der Ukraine tun, wollen nicht unsere sondern ihre Freiheit verteidigen.
Sie „opfern sich“ – aus Europas Sicht – für uns.
Aber sie werden für „Europa“ geopfert“, aber nicht mit mir.
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Hach, ich liebe solche geschichtlich-literarischen Ausführungen einfach. Bildung ist sooo toll. Ich hoffe sehr, dass ich das wenigstens einem Teil meiner Schüler glaubhaft vermitteln kann.
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Danke, Marion, das freut mich sehr!
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