Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Spontan fällt mir nichts Literarisches zu Rücksicht ein. Was ist das überhaupt für ein Wort? Im Griechischen steht dafür „σεβασμός“, das ist so was wie Ehrerbietung. Da sehe ich etwa einen Menschen vor mir, der rücksichtsvoll aufsteht, um einem Gehbehinderten seinen Platz anzubieten. Im Englischen ist die Übersetzung „consideration“ und „regard“, als Synonym auch „respect“…
Aha. Respekt ist ja fast die Übersetzung von Rücksicht ins Lateinische: re = zurück, spectare = zuschauen, beobachten. Ich nehme Rücksicht, heißt: ich stürze mich nicht auf den erstbesten freien Platz, sondern schaue ich mich um und vergewissere mich, dass niemand anderer den freien Platz benötigt. Oder wenn ich als Lehrerin der Klasse vorangehe, schaue ich mich regelmäßig um, beobachte die Nachhut und passe auf, ob die Schwächeren das Tempo halten können. Das gilt natürlich auch im übertragenen Sinne.
Und da fällt mir nun wirklich eine Geschichte ein: Ich bin vielleicht vier und sehe mich mit Mutter, Oma und den älteren Geschwistern beim Sonntagsspaziergang. Mutter und Oma sind untergehakt und wandern zügigen Schritts, ins Gespräch vertieft. Die Geschwister rennen vorweg. Ich aber, die Kleinste, trödele hinterher. Mich lockt es, dies und das am Wegrand anzuschauen. Der Abstand zur Gruppe vergrößert sich dabei bedrohlich. Als ich es bemerke, beginne ich zu rennen und schreie und brülle: „Wartet!“, aber die Gruppe entfernt sich wie eine erbarmungslose gut geölte Maschine, unempfindlich für mein Geschrei. Als ich sie nach etlichen Mühen schnaufend und tränenüberströmt erreiche, klammere ich mich ans Handgelenk der Mutter und lasse es nicht mehr los, auch als sie sich beklagt, ich sei ein Mehlsack.
Das ist achtzig Jahre her, aber so lebendig, als sei es heute geschehen. Vielleicht, weil es sich regelmäßig wiederholte, denn ich war nicht bereit, mich meinerseits dem Tempo der Gruppe unterzuordnen. Was ich daraus zu lernen hatte? Es ist wichtig, immer mal zurückzublicken und ein wenig Geduld zu haben mit den Kleinen, Schwächeren, vielleicht auch nur Verträumteren, die einen anderen Rhythmus haben als der Pulk. Habe ich es gelernt? Puh, ich fürchte, nein. Was ich gelernt habe, ist eher: lieber auf Gruppen als auf mein eigenes Tempo zu verzichten …
In mein dieser Tage verkauftes Aquarell „Ein Familienausflug“ ist das kindliche Erleben teilweise eingegangen: die Familie als enges Beziehungsnetz, das dich mitschleift, als Individuum auflöst, aber auch behütet.

Wie ich nun bei einem Blick ins Archiv feststelle, habe ich das Thema auch in Kohle gestaltet. „Brav, brav“ nannte ich es und schrieb: „Mit starker Hand hält der Papa den Nachwuchs am Zügel, damit niemand auf Abwege gerät und sich etwa gar in Frühlingsgefilden verliert.“ Nun, einen Papa und Zügel gabs bei uns nicht, und so brauchte ich die Rücksicht, um nicht verloren zu gehen.

Auch eine abc-etüde samt Legebildern habe ich zum Thema gemacht und „Vom Erwachsenenwerden“ genannt. Da ist es ein ängstlicher Junge, der vom Vater vorangetrieben wird, denn er meint, zu viel Rücksicht würde aus dem Jungen ein ängstliches weichliches Wesen machen (Vater „blickt nicht zurück“), während die Mama rückwärts schaut (Rücksicht nimmt) und mit der Laterne winkt.

Kata-Strophen vom Erwachsenwerden.
Der Papa marschiert, er sagt, nun mal los
Du bist ein Junge, du bist schon fast groß,
Zu lange hockst du auf Mamas Schoß
Werd mir kein Stubenhocker bloß.
Der Junge, der schreit: Da will mich wer fassen!
Hilf Papa, sag ihm, er soll mich loslassen!
Ich fürcht mich vor dem Mond mit dem blassen
Gesicht! Hilf Papa, die Füße bleiben mir stecken im Nassen!
Der Vater, der blickt nicht zurück zu dem Knaben,
Er sieht nicht den Drachen, er sieht nicht die Raben,
Die seinen ängstlichen Sohn umgaben.
Er sagt nur: Spring los, spring über den Graben.
Der Knabe der stolpert über Stöcke und Stein,
Muss eilen, sonst ist er bald gänzlich allein,
Verliert noch sein Mützchen, sein Beutelchen fein
Und fällt in den nassen Sumpf noch hinein.
Von oben blinken der Mond und die Sterne,
Die Mama winkt und schwenkt in der Ferne
Inmitten der Nacht die Heimkehr-Laterne,
Bei ihr, ach, zu Hause, wie wär er da gerne!
Und äße ne heiße Hollunderbeersuppe
Und spielte mit Mary, der Echthaarpuppe.
Und bastelte sich ne Indianertruppe
Mit Pfeil und Bogen und Einbaum-Schaluppe.
Herbstfarbenbunt leuchtet der Wald
Von drin ein heller Schuss erschallt.
Die Nacht ist dunkel, die Nacht ist kalt,
Ach käme der Morgen, ach käme er bald!

Eine eindrückliche Geschichte aus deinem Leben und wie immer große Kunst in Wort und Bild, liebe Gerda!
LG Marion
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