Arthur Schnitzler
Jedes Wort hat fließende Grenzen. Diese Tatsache zu ästhetischer Wirkung auszunützen ist das Geheimnis des Stils.
Du hast, liebe Myriade, in deinem Eintrag zu diesem Zitat, auf „die zeitliche Komponente dieses Fließens in Richtung der Grenzen der Bedeutung eines Wortes und darüber hinaus“ abgehoben, wobei dich weniger die Folgen für den Stil als die gesellschaftlichen Implikationen interessierten. Richtig?
Ich finde diesen Ansatz interessant, hatte aber beim Schnitzler-Zitat ganz andere Assoziationen. Für mich bedeuten „fließende Grenzen eines Wortes“ in etwa das, was man den Assoziationshof nennt. Der ist von Sprecher zu Sprecher, von Sprache zu Sprache verschieden, variiert über die Zeit und ist eine Herausforderung für jeden Übersetzer.
Ich möchte das an einem willkürlichen Beispiel exemplifizieren: Nehmen wir das Wort „Brücke“. Zur Auflockerung füge ich in den langen Text ein paar meiner Brückenbilder ein.

Jeder weiß, was eine Brücke ist: ein Bauwerk, das von Menschen errichtet wurde, um ein Gewässer oder einen Abgrund zu überqueren. Das also ist die „Kernbedeutung“ von „Brücke“. Darum herum aber liegt ein weiter Hof, liegen viele Schleier von Sub-Bedeutungen, Gefühlen, Geschehnissen, Erinnerungen, Bildern…, durch die das Wort quasi ins Schwingen gerät und lebendig wird.

Bei Schnitzler selbst fand ich folgenden Gebrauch: … Dann saßen wir einmal im Theater, ich weiß nicht mehr, bei welchem Stück, da sprach irgendeiner auf der Bühne von Kolumbus. Es war ein Stück in Jamben, und ich entsinne mich des Verses: »– und da Kolumbus auf die Brücke trat…« (aus: Amerika)
Hm. Da meint er offenbar nicht das „Bauwerk…“, sondern die „Kommandobrücke“ oder „das Deck auf einem Seeschiff, auf dem die Seewache gegangen wird“ (Wikipedia)
Auch der Zahnarzt meint etwas anderes mit „Brücke“, oder der Sportlehrer, der den Schüler auffordert, eine solche zu machen. Oder der Teppichhändler, der dir eine anbietet. Dem Kunsthistoriker fällt bei „Brücke“ Schmidt-Rottluff, Heckel und Kirchner ein. Der Brückentag zwischen Himmelfahrt und dem Wochenende meint auch kein Bauwerk. Oder nimm den Steg der Geige, den man auch Brücke (bridge) nennt.
Meist gilt es, etwas zu „überbrücken“, manchmal geht es nur um die Form, die „brückengleich“ ist.
Aber gut. Lassen wir das. Damit mögen sich die Übersetzer abplagen. Hier soll es nicht um Definitionen, sondern um „ästhetische Wirkung“ gehen, die durch die fließenden Wortgrenzen erzeugt wird.
Also suchte ich Dichter, die über „Brücken“ schreiben, und sortierte sie nach Geburtsjahrgang, um eventuelle Veränderungen des Wortgebrauchs mit einzubeziehen. Der älteste von mir zitierte Dichter ist Goethe, der jüngste Georg Heym.
Die Frage geht nach dem Assoziationshof des Wortes „Brücke“, den der jeweilige Dichter evoziert. Ich kann die Interpretations-Arbeit hier nicht leisten, nur anregen, dass sich jeder, der sich dafür interessiert, einmal eines der Gedichte genauer anschaut und sich fragt: Welchen „Assoziationshof“ hat das Wort „Brücke“ für diesen Dichter in diesem Gedicht?
Dasselbe lässt sich mit jedem x-beliebigen Wort durchführen. Dazu gelegentlich ein weiterer Beitrag.
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)
Auf großen und auf kleinen Brucken
Stehen vielgestalt´ge Nepomuken
Von Erz, von Holz, gemalt, von Stein,
kolossisch groß und puppisch klein.
Jeder hat seine Andacht davor,
weil Nepomuk auf der Brucken sein Leben verlor.

Friedrich Schiller (1759-1805)
Von Perlen baut sich eine Brücke
Hoch über einen grauen See,
Sie baut sich auf im Augenblicke,
Und schwindelnd steigt sie in die Höh.
Der höchsten Schiffe höchste Masten
Ziehn unter ihrem Bogen hin,
Sie selber trug noch keine Lasten
Und scheint, wenn du ihr nahst, zu fliehn.
Sie wird erst mit dem Strom, und schwindet,
Sowie des Wassers Flut versiegt.
So sprich, wo sich die Brücke findet,
Und wer sie künstlich hat gefügt?

Theodor Fontane (1819-1898)
Brück am Tai
….
Und unser Stolz ist unsre Brück‘;
ich lache, denk ich an früher zurück,
an all den Jammer und all die Not
mit dem elend alten Schifferboot;
…
(Tand, Tand, ist das Gebilde aus Menschenhand). Die bekannte Ballade bezieht sich auf den Zusammenbruch der Eisenbahnbrücke Firth-of-Tai in Schottland (1879). Stolze Ingenieurskunst von Menschenhand ist Tand angesichts der Natur- und Geistesgewalten.

Gottfried Keller (1819 – 1890)
Schöne Brücke, hast mich oft getragen
Wenn mein Herz erwartungsvoll geschlagen
und mit dir den Strom ich überschritt.
Und mich dünkte, deine stolzen Bogen
sind in kühnern Schwüngen mitgezogen
und sie fühlten meine Liebe mit.
Weh der Täuschung, da ich jetzo sehe,
Wenn ich schweren Leid’s hinübergehe
Daß der Last kein Joch sich fühlend biegt
Soll ich einsam in die Berge gehen
und nach einem schwachen Stege spähen
der sich meinem Kummer zitternd fügt?
Aber sie, mit anderm Weh und Leiden
und im Herzen andre Seligkeiten:
Trage leicht die blühende Gestalt
Schöne Brücke, magst du ewig stehen
ewig aber wird es nie geschehen
daß hinüber eine Bessre wallt!

Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898)
Die alte Brücke
Dein Bogen, grauer Zeit entstammt
Steht manch Jahrhundert ausser Amt;
Ein neuer Bau ragt über dir:
Dort fahren sie! Du feierst hier.
Die Strasse, die getragen du,
Deckt Wuchs und rote Blüte zu!
Ein Nebel netzt und tränkt dein Moos,
Er dampft aus dumpfem Reussgetos.
Mit einem luftgewobnen Kleid
Umschleiert dich Vergangenheit,
Und statt des Lebens geht der Traum
Auf deines Pfades engem Raum.
Das Carmen, das der Schüler sang,
Träumt noch im Felsenwiderklang,
Gewieher und Drommetenhall
Träumt und verdröhnt im Wogenschwall.
Du warst nach Rom der arge Weg,
Der Kaiser ritt auf deinem Steg,
Und Parricida, frevelblass
Ward hier vom Staub der Welle nass!
Du brachtest nordwärts manchen Brief,
Drin römische Verleumdung schlief,
Auf dir mit Söldnern beuteschwer
Schlich Pest und schwarzer Tod daher!
Vorbei! Vorüber ohne Spur!
Du fielest heim an die Natur,
Die dich umwildert, dich umgrünt,
Vom Tritt des Menschen dich entsühnt!

Alfred Mombert (1872 – 1942)
Plejaden-Gott: du legtest dich zur Ruhe
mitten in die Glut deiner geliebten Gestirne.
…
59
Und jetzt steigt vor mir die große Brücke.
Mein Roß stampft auf dem schallenden Basalt-Pflaster,
es will nicht weiter.
Ich halte und entzäume.
Befreit vom Funkelrubin vor deiner Stirn,
dem Goldgeplätte deiner Lenden:
laufe zur Wiese, zu deiner Heide,
zu Gras und Busch und Bach,
zu den Schwarzamseln,
zu den frischen kühlen Lüften,
zu der Quelle, unter die Schatten-Bäume,
davor die Mücken tanzen in der Sonne.
Brücke: Wer dich zeugte, war mein Vater.
Wer dich geboren hat, war meine Mutter.
Und ich habe, das Kind, in Urzeit-Tagen
droben auf deinem lichten Joch gespielt.
Morgens lächelnd, abends düster trauernd:
Brücke vor mir mit doppelten Türmen:
Steil schwebst du an, du hebst dich: in einen Himmel
über Abgrund Welten, die so tief sind,
daß nie ein Auge hinunter sah.
Drüben führt aus Strahlungen dein Gesenke
in Hoch-Zeiten, in Feste, in Tanz und Äther:
in die Glück-Hoffnungen, die unendlichen Zukünfte.
In den Pfeiler-Nischen sitzen Sängerinnen;
Ton-Gewaltige, die singen die Macht;
und die Sage der Gestirne.
Alles schwingt in Hall und Schall.
Einschläfernd! Daß mich Schlaf überwältigt –
mich steinern anlehnt an die Stein-Brücke.
*
Ich höre einen Sturz-Regen aus Wolken.
Das Auge eines Tigers funkelt aus Wäldern.
Um mich treten Gebirge, lagern sich Meere.
– Du im Gewitter droben! –
Mein Haupt schläft zwischen den Blitzen,
meine Füße stehen im gespiegelten Äther.
Menschen lagern auf Dächern vergangener Städte,
in Persia, in Gräcia,
in verblichenen Gewändern
strahlend von Juwelen.
Sie schauen mir nach …
* * *
Aus einer Höhe:
Aus einer flimmernden Glanz-Höhe:
Aus strahlenden Spiegeln innerer Kristall-Höhe –:
Geister-Freuden-Ruf erschallt.
Zerrissenes Gewölk! Erschienene Sterne!
Ich! und wach! in Welt!
Hier steh‘ ich: auf hoher Granit-Klippe:
Schicksal-Klippe: Macht-Klippe.
Tief die Erde.
Tief die Brücke.
Tief das hallende Lied der Sängerinnen.
Freude der Plejaden
feiert im unermessenen Äther.
Die Erde füllt sich rund mit Tänzern,
Himmelauf schießt ein Farben-Blumenstrauß
in Gläsern, Kelchen, Kronen, Glocken;
darunter lustwandeln kristallhelle Geister.
Smaragdgrün beginnt ein Luna-Falter
himmelüber luftigen Flug.
Entfesselung des Geistes!
Alle, die sind, vernehmen meine Worte,
meine Gedanken in meinem Herzen:
Sie vereinigen sich: zum Zug
über die Brücke.
Voran im Wind eine goldene Fahne,
die Flatterin halten wunderbare Hände,
sie trägt ein unsichtbarer Geist.
Es folgen in Völkern anschwebend die Vögel des Himmels,
auf purpurnen Gold-Fittichen
mit sich führend Hoch-Äther-Bläue.
Es fluten heran die großen Brandung-Meere
im Trompeten-Schall, mit Pauken-Schlag,
haltend in gläserngrünen Häusern
tauchende Quallen; große Wale; Gewürme.
Es nahen die schweren, asiatischen Gebirge,
blendende Ararate, Himalaya:
unten dunkelblaue Raubtier-Forsten;
oben stille Höhen-Blumen-Welten.
Auf höchstem Silber-Grat klimmen zwei Wanderer
ins Abendrot. Eis-Nacht bricht herein.
Dann wirbeln sechs unnahbare Sand-Wüsten.
Zwischen ihren Gluten irrt die Verzweiflung
verwilderter Diamanten-Sucher:

Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Da dich das geflügelte Entzücken
über manchen frühen Abgrund trug,
baue jetzt der unerhörten Brücken
kühn berechenbaren Bug.
Wunder ist nicht nur im unerklärten
Überstehen der Gefahr;
erst in einer klaren reingewährten
Leistung wird das Wunder wunderbar.
Mitzuwirken ist nicht Überhebung
an dem unbeschreiblichen Bezug,
immer inniger wird die Verwebung,
nur Getragensein ist nicht genug.
Deine ausgeübten Kräfte spanne,
bis sie reichen, zwischen zwein
Widersprüchen … Denn im Manne
will der Gott beraten sein.

Georg Heym (1887-1912)
Halber Schlaf
Die Finsternis raschelt wie ein Gewand,
Die Bäume torkeln am Himmelsrand.
Rette dich in das Herz der Nacht,
Grabe dich schnell in das Dunkele ein,
Wie in Waben. Mache dich klein,
Steige aus deinem Bette.
Etwas will über die Brücken,
Es scharret mit Hufen krumm,
Die Sterne erschraken so weiß.
Und der Mond wie ein Greis
Watschelt oben herum
Mit dem höckrigen Rücken.

Sprache und Wörter sind ja selbst wie Brücken, die wir zum Gegenüber versuchen zu schlagen oder abzubrechen. Insofern ist das „willkürliche“ Beispiel also besonders passend. Die Gedichte sind sehr interessant. Ich würde noch das Lied „Sur le pont d’Avignon“ in den Reigen werfen, um beschwingt in den Morgen zu gehen, äh – zu tanzen: On y danse, on y danse 😊
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Das Lied habe ich glatt vergessen. dabei habe ich selbst mal ein post dazu gemacht. https://gerdakazakou.com/2020/05/22/andreas-schnipsel-sur-le-pont-davignon-on-y-danse/
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Schöne, brückenhaft verbindende Beispiele… und doch hatte ich noch eine andere Assoziation.
Der junge Arthur sudelte seine Hausaufgabe auf’s Blatt. Leider verspritzte dabei die Tinte, zerflossen die Buchstaben. Entsprechend ungehalten war der Lehrer, doch Arthur wußte zu antworten: „Herr Lehrer, das ist keine Unachtsamkeit, kein Versehen – das ist Stil! Der Stil der jungen Wilden!“
Da die damals noch gar nicht erfunden haben, wiessen wir nicht, wie die Reaktion des Lehrers ausfiel.
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Ich wiese es! Der Lehre nimmt sein Lineal!
Und verschmiert noch mehr davon.
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Ja, die Gewalt an Schulen sank erheblich, als die Lehrer aufhörten, Prügel auszuteilen…
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Viel Glück bei der Überquerung dieser abenteuerlich aussehenden Brücke!
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Was für ein genialer und umfassender Beitrag über Schnitzlers
Jedes Wort hat fließende Grenzen.
und jedes Wort kann Brücke sein. Worte als Brücken sind genial und wenn Brücken abreißen, eine Vebindung abgebrochen ist, sollte man sein Menschenmöglichstes tun, um sie wieder aufzubauen
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Voll deiner Meinung, liebe Bruni. Dieser Post von Gerda ist sensationell 💐💌
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Oh ja, echt klasse, lieber Finbar ⭐
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Megaklasse! 🎵🎶🎵🎶🎵🎶🎵🐦
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Das Wort ist Brücke und Fluss zugleich. 🙂
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gerda ist halt ❣️spitze
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