Zwei Gesichter (Impulswerkstatt, Verbindungsübung)

 

Zwei der vier Bilder, die du, Myriade, diesmal als Impuls gesetzt hast, sind „Portraits“ – Portraits sehr verschiedener Art freilich.  Das erste hat ein vermutlich junger Mann imaginiert und an eine Mauer gesprayt – wir wissen nicht, wer er war und mit welcher Absicht er es tat. Das Wesen, das er abbildete, starrt uns aus drei Augen an und ist mit Spiralen geschmückt, die teils in die Zukunft, teils in die Vergangenheit laufen. Es scheint keiner Zeit und keiner bekannten Weltregion anzugehören, auch keine seelischen Eigenschaften zu besitzen, aber es will oder soll Gefühle im Beschauer erwecken. Welche Gefühle? Schrecken, Sorge, Angst? Neugier, Staunen? Lachen vielleicht?

Ich schaue bei den Mitschreibenden vorbei und lese, das Wesen sei „im Weltraum“ beheimatet, „felin“ oder „grotesk“, es habe etwas von KI und Computern. Das „Dritte Auge“ führt zu Spekulationen über die Signalverarbeitung im Innern von Insekten, über das „gespaltene Ich“ und zyklopisches Wahrnehmen…  Ist es menschlich? Kann man sich mit ihm identifizieren? Eher nicht. Und doch ist es ein Wesen, das auf seine Weise mit uns Erdlingen kommuniziert.

Das andere Portrait wurde 1892 von einer gebürtigen Nordirin namens Helen Mabel Trevor im bretonischen Fischerstädtchen Concarneau auf eine Leinwand gemalt und ordentlich gerahmt. Es hat einen Titel („Mutter des Fischers“), und ein Entstehungsdatum. Zeit, Ort, Weltgegend, soziales Milieu von Malerin und Abgebildeter sind somit „bekannt“.

Fischerhäuser

Aus dem Rahmen schaut mich eine alte Frau an, deren Sohn Fischer war – wie die meisten anderen jungen Männer jener Gegend. Vor allem Thunfisch fing man, um ihn an die Fischfabriken zu liefern, wo er verarbeitet wurde. Mein Opa war Fischer, 1885 geboren, also sieben Jahre alt, als das Bild entstand.

Fischereimilieus sind tief in meinem Herzen verwurzelt. Ich bin damit identifiziert, sie regen in mir Gefühle an und auf, und in meiner Malerei sind sie sehr gegenwärtig.

meinem Großvater gewidmet, der ein Fischer war

Wie alt mag die Frau auf dem Gemälde sein? Sie schaut mich aus zwei vom Alter getrübten Augen an, Gefühle der verschiedensten Art haben sich in ihr faltenreiches Gesicht eingegraben. Ein bitteres Lächeln huscht um ihren Mund. Ich stelle mir vor, dass sie um 1815 herum geboren wurde, in den dreißiger Jahren heiratete, Söhne bekam, die Fischer wurden oder in der heimischen Fischindustrie anheuerten (Tourismus war damals noch nicht sehr angesagt), vielleicht hatte sie auch Töchter, die ihrerseits Fischer heirateten und Kinder bekamen, Fischer wie ihre Brüder, ihre Väter. So mancher der Söhne und Enkel mag ertrunken sein oder in einem der Kriege, die sie nichts angingen, verschollen. Sie aber lebte weiter, wurde alt und älter und ihr Rücken bog sich unter der Last der Jahre.

Eines Tages sprach sie eine elegante Fremde in gebrochenem Französisch an und bat sie,  sie malen zu dürfen.Und so schaute sie zu, wie ihr Portrait auf der Leinwand entstand, sie als alte Frau, schwer auf den Stock gestützt, und ihr langes Leben eingegraben in jede Pore ihres Gesichts.

Wer war diese fremde Dame? Wozu brauchte sie das Portrait einer alten Fischer-Mutter?

Die Malerin Helen Mabel Trevor war damals selbst schon sechzig. Geboren wurde sie in Nordirland, Tochter landreicher Protestanten. Die Einnahmen aus dem väterlichen Gutsbetrieb reichten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Malerei war eine Liebhaberei, die „höheren Töchtern“ gestattet war.  Sie malte, gefördert vom Vater, schon als Jugendliche. Sie malte Hunde, Katzen und Portraits, schickte ihre Bilder nach London. Mit 40 begann sie, ernsthaft Kunst zu studieren. Mit 50 bildete sie sich bei französischen Realisten in Paris und der Bretagne weiter, lebte fünf Jahre in Italien, immer begleitet von ihrer Schwester.

Zurück in Frankreich, bereiste sie erneut die Bretagne, begegnete der „Mutter des Fischers“, portraitierte sie und stellte das Bild in der Royal Academy von London aus. 69jährig, starb sie in Paris an Herzversagen.

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Selbstportrait

Und ich frage mich: Wo befinde ich mich selbst in der Geschichte, als Malerin, alte Frau und Enkelin eines Fischers einerseits und als Zeitgenossin von Marsexkursionen und künstlichen Intelligenzen andererseits?

Kugelschreiberzeichnung mit Foto-Überblendung

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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8 Responses to Zwei Gesichter (Impulswerkstatt, Verbindungsübung)

  1. Alles kannst du nicht vereinen.
    Aber beide letzten Portraits sind die einerer selbstbewussten und wissenden Frau. Nenne es meinetwegen alt.

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  2. Helen Mabel Trevor, die Malerin des wundervollen Portaits und Du, liebe Gerda,
    habt eine gemeinsame Leidenschaft, das Malen
    und ihr Selbstportrait ist so anders als Deines und doch eint Euch diese Leidenschaft –

    Du, die starke Frau der Neuzeit und Frau Trevor, die schon so lange nicht mehr lebt…

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  3. Avatar von Myriade Myriade sagt:

    Deine Verbindung zu deinem Fischer-Großvater zieht sich interessant durch diesen Artikel und als Draufgabe dieses eindrucksvolle Selbstportrait, das fast kubistisch aussieht. Meistens mag ich diese Überblendungen nicht so gerne, dieses gefällt mir aber sehr, es ist irgendwie besonders …
    mitternächtliche Grüße

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  4. Avatar von Leela Leela sagt:

    Tolle Bilder. Deine und ihre.

    Leela

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