Übers Lesen, Erzählen und Erinnern (Kapuscinskis Reisen mit Herodot, und mein Welttheater)

Gestern suchte ich in den Regalen im Keller nach einem bestimmten Buch, das, so erinnerte ich mich, einen gelben Umschlag hat. Ich fand es nicht, dafür aber ein anderes mit gelbem Schutzumschlag: Ryszard Kapuscinski, Meine Reisen mit Herodot, Eichborn Verlag 2005.  Das nahm ich mit und begann zu lesen über die Reisen des polnischen Journalisten Kapuscinski in Indien und China (so weit bin ich grad) in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als in Polen die Kommunistische Partei herrschte, in Indien die Unabhängigkeit Nehru an die Macht brachte und in China Mao 1000 Blumen blühen lassen wollte.

In dem Buch gibt es Anstreichungen mit Bleistift, die von mir stammen, aber ich erinnere mich an nichts. Das Buch ist voll von Geschichten, die mir völlig neu zu sein scheinen, und andere, die ich von irgendwoher kenne. Aber aus diesem Buch?

Eine merkwürdige Sache ist es mit dem Erinnern, Manches geht einfach ins „Wissen“ über, ohne dass ich mich an die Quelle erinnere, anderes „weiß“ ich, weil ich es gelesen oder gehört habe, und ich erinnere mich auch, wo, und sehr vieles vergesse ich einfach.

Zum Glück gibt es ja das Buch, denke ich, dann lese ich es eben noch mal. Auf S. 101-103 stoße ich auf eine Passage mit vielen Anstreichungen (kursiv):

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„Herodot bekennt, dass er an einer Obsession der Erinnerung litt – er wusste, dass die Erinnerung etwas Flüchtiges, Brüchiges, nicht Dauerhaftes, ja Trügerisches ist. Dass sich das, was in ihr ist, was sie in sich bewahrt, verflüchtigen, spurlos verschwinden kann. Seine ganze Generation, alle Menschen, die damals auf Erden lebten, litten unter dieser Angst: Ohne Erinnerung kann man nicht leben, denn sie ist es, die den Menschen über die Welt der Tiere erhebt, die die Gestalt seiner Seele ausmacht, gleichzeitig ist sie jedoch so irreführend, ungreifbar, trügerisch. Das hat zur Folge, dass sich der Mensch seiner selbst so wenig sicher ist. Halt, das war doch…! Na, denk nach, wann war denn das? Das war doch dieser …? Also, versuche, dich zu erinnern, wer das war! Wir wissen es nicht, und hinter diesem „wir wissen es nicht“ erstreckt sich ein riesiges Gebiet des Unwissens oder – des Nichtexistierens. 

Der moderne Mensch sorgt sich nicht um seine Erinnerung, denn er ist umgeben von aufbewahrten Erinnerungen. Er hat alles in Reichweite – Enzyklopädien (…) das Internet. (…) Wenn er ein Kind ist, sagt ihm die Lehrerin in der Schule alles (…)

Zur Zeit des Herodot gab es keine oder fast keine dieser Institutionen, Einrichtungen und Techniken. Der Mensch wusste das, und nur das, was er in seinem Gedächtnis gespeichert hatte. Einzelne Menschen lernten, auf Papyrusrollen und Tontafeln zu schreiben. Doch die übrigen? Die Beschäftigung mit der Kultur war stets eine aristokratische Domäne. Wo die Kultur von diesem Prinzip abweicht – geht sie zugrunde

In der Welt Herodots ist der Mensch beinahe der einzige Bewahrer der Erinnerung. Um zu erfahren, was erinnert wurde, muss man daher zu einem Menschen gehen, und wenn er weit weg wohnt, müssen wir zu ihm wandern, uns auf den Weg machen, und wenn wir ihn treffen, müssen wir uns zu ihm hinsetzen und hören, was er uns zu sagen hat, zuhören, es uns einprägen (….)

Herodot wandert also durch die Welt, er trifft Menschen und hört zu, was sie erzählen. Sie sagen ihm, wer sie sind, sie erzählen ihre Geschichte. Aber woher wissen sie, wer sie sind, von woher sie kommen? Ach, antworten sie, wir haben es von anderen gehört, vor allem von unseren Vorfahren. (…) Dieses Wissen hat die Form von Erzählungen. Die Menschen sitzen ums Lagerfeuer herum und erzählen. Später einmal wird man das Legenden und Mythen nennen, doch im Augenblick, während sie das sagen oder hören, glauben sie, es handle sich um die heilige Wahrheit, die wirklichste der Wirklichkeiten.“

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Soweit das Zitat.

In meinem Welttheater treffen sehr verschiedene Menschen aufeinander, die durch die Gegend wandern, Grüppchen bilden und immer wieder Orte finden, wo sie zusammensitzen, um sich gegenseitig ihre Geschichten zu erzählen:  in der Bucht, in Danais Höhle, in Wilhelms Lager, in Fotis‘ Haus sitzen sie wie in alten Zeiten zusammen und erzählen. Woher habe ich dieses Konzept? Ist mir vielleicht doch in Erinnerung geblieben, was ich hier, in diesem Buch, las, und es tritt nun, beim Schreiben der Szenen des Welttheaters, wieder an die Oberfläche meines Bewusstseins?

Das Motiv des Erzählens, das dem Prinzip von Geben und Nehmen im Ausgleich folgt, wird zu Beginn des Welttheaters, in der dritten Szene, von Domna, der blinden Dichterin, formuliert und von den anderen aufgegriffen :

Domna:

Wir setzen uns im Kreise, so,

Ich habe Brot, die Trud hat Fragen.

Und was hast du? Und was gibst du?

Jenny, Trud, Domna und Danai im Wechselgesang

Ich erzähl euch eine Geschichte                                Und ich stelle Fragen  

Ich rezitier euch Gedichte                                          Ich weiß alte Sagen

Ich weiß was von Witzen                                           Und ich, ich kann lachen

Komm her, bei uns sitzen                                          Bring mit deine Sachen

Komm her, dich zu wärmen                                     Bring mit deinen Kummer

Wer wird sich denn härmen?                                   Ich sing dich in Schlummer.

 

Ich gebe, so gib schon,  er gibt und sie gibt           Ich lebe, ich liebe, du liebst und sie liebt.

 

In Danais Höhle kommt zum Austausch von Nahrung, Gefühlen und Erzählungen die Magie des Ortes hinzu:

Domna:

Es träumen vielhundert Gedichte

in der Höhle seit altersher.

Sie träumen im schummerigem Lichte

und wissen den Ausgang nicht mehr.

 

 Es schweben die Traumgestalten

in der Höhle dunkelndem Raum

Sie wollen die Nacht verwalten

bis alles wird zum Traum.

Weiter geht es in Wilhelms Lager. Wilhelm, ein Einzelgänger, wird durch die Gruppe hineingezogen in den Erzähl- und Austauschprozess. Auch die beiden Afrikaner kommen dazu –  das „Symposion“ kann sich aber wegen eines aufkommenden Streits zwischen dem Lager-Besitzer und den Fremden noch nicht als Erzählform ausgestalten.

 Domna

Ihr lieben Frauen setzt euch nieder

und setz auch du dich, liebes Kind.

Wie schön, dass wir auch heute wieder

so friedlich hier zusammen sind.

 

In unsrer Runde sei willkommen

auch Wilhelm, der in seinen Raum

uns einlud, wie es ziemt dem Frommen,

auch wenn den Gast er kennt noch kaum.

 

Die Götter habens so befohlen:

dem Fremdling öffne deine Tür

dass er sich von der Fahrt erholen

und essen kann, er dankt dafür.

 

Es freut der Hausherr sich der Gäste

denn statt zu essen ganz allein

wird ihm das Mahl nunmehr zum Feste

mit Reden und mit gutem Wein.

Erst als der Hirte Fotis die Gruppe in sein Haus einlädt, entsteht eine „klassische“ Erzählsituation, so dass sich die Geschichten in voller Länge entfalten können. Es ist jetzt der Gastgeber, der die anderen, als Gegengabe für Speis und Trank, um Erzählungen bittet:

Fotis

Seit ihr nun satt? Dann möcht ich fragen

woher ihr kommt und wer ihr seid

Ich mag Geschichten und auch Sagen,

Erzählt sie mir, ich bin bereit.

 

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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5 Antworten zu Übers Lesen, Erzählen und Erinnern (Kapuscinskis Reisen mit Herodot, und mein Welttheater)

  1. Gisela Benseler schreibt:

    „Es träumen vielhundert Gedichte
    In der Höhle seit altersher…“
    Das mag ich, erinnere mich aber kein bißchen, ob ich das schon einmal bei Dir las, Gerda.
    Anscheinend geht es nicht nur Die so mit den Gedachtnislücken.

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  2. Gisela Benseler schreibt:

    Das übrige ist mir aber bekannt.

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  3. linienspiel schreibt:

    Danke, Gerda, dass du an deinem inneren Reichtum mit deinen Beiträgen, ganz besonders auch deinem Welttheater teilhaben lässt. Mir schenkst du damit Unterhaltung und Tiefgründiges. Ob es dein Welttheater vielleicht einmal in Händen zu halten gibt? Als Buch, meine ich. Wäre schön!

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    • gkazakou schreibt:

      Ich danke dir sehr für deinen Kommentar! Was mit dem Welttheater noch geschieht, weiß ich nicht, es ist ja erst am Entstehen. Momentan tut es mir gut, jeden Tag ein wenig daran weiterzuschreiben.

      Gefällt 1 Person

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