Welttheater,4. Akt, 41. Szene: Streit, die Geschichte von Ödipus und über das Sehen mit dem Herzen.

Was zuletzt geschah: Der Hirt möchte Geschichten hören. Das Kind Clara erzählt ein Märchen, immer wieder spöttisch von Jenny unterbrochen. Clara hat keine Lust mehr und fordert Jenny auf, selbst was zu erzählen, doch die wehrt ab.

Jenny:

Warum denn ich? Ich hab nichts zu erzählen

kannst du nicht einen anderen auswählen?

Clara:

Zu sagen hast du immer was, jetzt kannst du mal erzählen.

Doch wenn du es nicht wirklich willst, werd ich den Abud wählen.

Abud:

Nee, nee, die Jenny, die ist dran.

Ich bin gespannt, was Jenny kann.

Sie hat ein großes Maul, das stimmt

das ungern gibt und gerne nimmt

Jenny:

Was ich so kann, das willst du wissen?

Du kannst dich, weiß ich, gern verpissen.

Abud:

Das geht nicht, denn ich würd vermissen

deine Geschicht, das wär beschissen.

Jenny

Du spielst dich auf, du glaubst am Ende

du bist ein Mann, bist nur ein Neger.

Ja komm nur her und ball die Hände!

Am besten wirst du Schornsteinfeger.

Domna steht auf und geht hinaus.

Danai:

Was ist hier los? was ist in euch gefahren?

Was soll der Streit, was sollen diese Worte?

So schön wars nie in all den Jahren

als heute, grade hier, an diesem Orte.

 

Nun habt ihr Domna aus dem Raum getrieben

weil sie die Worte nicht ertragen kann

die ihr ganz ohne nachzudenken, meine Lieben

euch an den Kopf werft, dass sich Streit entspann.

 

Ihr meint’s nicht so, doch wollt ihr euch gern reiben

der eine an dem andern, dass es schmerzt.

Ihr mögt es zwischen euch auch gern so treiben

und euch zwickzwacken ganz beherzt.

 

Doch hier seid ihr zu Gaste, habt gegessen

vom dem was euch der Hirte aufgetischt.

Es geht euch gut, und schon habt ihr vergessen

wie’s vorher war? denn jetzt seid ihr erfrischt

 

und voller Kraft, schon wollt ihr euch bekämpfen

wie junge Hunde, die so tun als ob!

Ihr könntet euren Übermut mal dämpfen

und fein euch äußern anstatt grob.

Jenny:

Es tut mir leid, Danai, ich geh mal raus

und schau, wo Domna ist, und sprech mit ihr.

Ich weiß auch nicht, mich beißt manchmal ne Laus.

Der Abud ist mein Freund, das glaube mir!

Abud

Ich komm mit dir, ich weiß ja, wie du denkst

und dass du Sachen sagst, die du nicht meinst.

Es ist weil du mit Leuten oft rumhängst

die dich verhöhnen, wenn du weinst.

Danai:

Nein, bleibt! Denn Domna ging allein hinaus

um Ruh zu finden, und womöglich ein Gedicht.

Wer weiß was sich entwickelt noch daraus,

und euren Streit, den braucht sie wirklich nicht.

 

Trud

Soll ich nun weitermachen mit Geschichten?

Ich könnte, wenn ihr wollt, davon berichten

wie es so geht, wenn man an manchen Tagen

nichts andres tun kann als nur immer fragen?

Fotis

Ich frag mich oft, warum, weshalb und auch wieso

Und kenn die Antwort nicht, und wüsste sie doch gern.

wenn du von deinem Fragen sprichst, dann wär ich froh.

doch dich bedrängen möcht ich nicht, das liegt mir fern.

Trud:

Sehr gern will ich euch die Geschichte sagen

die schon seit alters her erforscht das Fragen.

 

Da war ein Mann, der schlug nen andern tot.

Warum nur tat er es? Der Hohlweg war nicht breit

genug für beide.  „Ich will der erste sein“ gebot

der Ältere. Jedoch der Jüngere war nicht bereit

 

ihm aus dem Weg zu gehn. Drum schrie der Alte wüst:

„Mach Platz, du Lump, ich will zuerst passieren.“

Warum hat er geschrien? Er hat es schwer gebüßt.

Denn er verlor, was schmerzhaft zu verlieren:

 

Sein Leben! Doch gewann der andre nun

weil er als erster diesen Hohlweg hat durchritten?

O weh! O nein! Denn er konnt nicht abtun

die Folgen seiner Tat, die hat er schwer durchlitten.

 

Du willst nun hören, wie das Schicksal spielt?

Er kam zu einem Felsen, eine Sphinx stand drauf

er sah sie, zügelte sein Pferd und hielt

und fühlte nach dem Schwert, ergriff den Knauf.

 

„Du musst ein Rätsel lösen“, sprach das Wesen

„dann reitest du vorbei und wirst ein König

dann bist vor allen anderen du auserlesen

und zu dem allerhöchsten Glück fehlt dir nur wenig.

 

Doch wenn du’s nicht errätst, dann werde ich dich fassen

und runterschlingen wie zuvor die andern.“

„Sag mir das Rätsel“, sprach der Mann gelassen

„ich will es lösen und dann weiterwandern.“

 

Da sprach die Sphinx: „So sag, was es wohl sei,

das früh am Morgen vier der Füße hat

Am Mittag hat es zwei und abends drei ?

Mit vielen Füßen ist es schwach und matt.

 

Nun sage mir geschwind, was das wohl ist?“

„Das ist der Mensch!“ rief gleich der Held.

„Mit dir ists aus, mit dir und deiner List!“

Die Sphinx stürzt sich herab und ist am Grund zerschellt.

 

Es ist der Mensch, der erst auf allen Vieren

ins Leben kriecht und dann auf zweien geht

im Alter wird er seine Kraft verlieren

und braucht den Stock, damit er aufrecht steht.

 

Jedoch! „Was ist der Mensch?“ das ist die größre Frage

die bis auf heute schwer die Menschheit quält.

Es ist die große Frage, die ich in mir trage

auf die mir immer noch die Antwort fehlt.

 

Der Mann erschlug den Fremden, der den Weg versperrte.

Er war so klug und war zugleich so blind.

Was wars, das ihm die Wahrnehmung verzerrte

dass er nicht merkte: „Ich bin ja sein Kind!?

 

Der Fremde ist mein Vater, er hat mich gezeugt.“

So klug im Rätselraten und so blind im Leben?

Drum hat das Schicksal ihn dann schwer gebeugt

er musst sogar sein Augenlicht dran geben

 

damit er sah, was seine Augen nicht erkannten.

Die Augen sahen einen Menschen, der als Feind

ihm seinen Weg vertrat, sie sah’n nicht den Verwandten.

Die Augen sehn ja nur, was äußerlich erscheint.

 

Er lernt es schließlich unter großen Schmerzen:

Für unsere Augen ist so manches unsichtbar.

Gut sieht man nur mit einem offnen Herzen

und was verworren war, das wird dann klar.

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Ödipus, die Sphinx und die drei Alter des Menschen.

1967-edipo-re-01-g

Ödipus auf Kolonos (Sophokles. Aufführung von 1967, aus einem griechischen Blog, ohne Quellenangabe.) Kolonos ist ein Hügel bei Athen (heute Stadtteil), zu dem Ödipus, nachdem er sich selbst die Augen ausstach, mithilfe seiner Tochter Antigone wanderte, um von den Eumeniden Erlösung von seinen Leiden durch den Tod zu erflehen. 

Zitat: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist ...

Diese Erkenntnis hat der Kleine Prinz am Ende seiner Reise, als er sich zum Sterben entschließt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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12 Antworten zu Welttheater,4. Akt, 41. Szene: Streit, die Geschichte von Ödipus und über das Sehen mit dem Herzen.

  1. Gisela Benseler schreibt:

    Oh da geht es ja hart und dramatisch „zur Sache“, Gerda. Streit ohne Ursache und gerade dann, wenn es einem gut geht, – versteht man das?
    Auf einmal wird Trud zur großen Erzählerin. Das ist wieder eine unerwartete Wende des Geschehens. Und Danai wird zur Friedensstifterin.

    Gefällt 2 Personen

    • gkazakou schreibt:

      Truds Erzählung entwickelt sich von der Ödipus-Sage hin zu den Fragen: Was ist der Mensch? und Was sieht man mit dem Herzen, aber nicht mit den Augen? Es sind die Fragen, die Trud die Fragende stellt. Diesmal tragen sie auch Antworten in sich: Ödipus sticht sich selbst die Augen aus, weil er das Offenkundige (die Verwandtschaft mit dem Vater, den er tötet) nicht sah. Und der kleine Prinz kommt sterbend zu seiner Einsicht, nachdem er sich durch den Augenschein (die vielen Rosen) hatte täuschen lassen. Das, was man sieht, kann täuschen. Man muss sein Herz befragen, um zu sehen. Die blinde Dichterin Domna ist nicht umsonst der spiritus rector des Welttheaters.

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      • Gisela Benseler schreibt:

        Gerda, das geht doch alles aus D

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      • gkazakou schreibt:

        Ja, Gisela, es ist alles schon gesagt worden. ich habe die Gelegenheit ergriffen, den Zusammenhang noch mal in Prosa zu beschreiben,weil ich mir nicht immer klar bin, ob es in der gereimten Form verständlich ist.

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      • Gisela Benseler schreibt:

        In der gereimten Form war es auch gut verständlich. Ich wollte aber auch andere zu Worte kommen lassen.☺️

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      • Gisela Benseler schreibt:

        Du meinst also: nicht Trud sondern Domna ist – als Spiritus rector – die Wichtigere.

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      • gkazakou schreibt:

        Ja. Domna, die blinde Dichterin, ist der spiritus rector des Welttheaters dieses Jahres, denn sie wurde für diese Rolle auserkoren. Das von ihr gefundene Thema durchwebt alle Szenen als geistig-poetischer Hintergrund. Trud wird von diesem Geist erfasst – schon früher wurde das bemerkbar, als sie Clara wie ein Pferdchen trug und ihr Lieder vorsang. Nun wieder in der Verknüpfung des Ödipus-Mythos mit dem Kleinen Prinzen. Auch die anderen werden langsam von diesem Geist ergriffen – der eine schneller, der andere langsam.

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      • Gisela Benseler schreibt:

        Diese Grundidee ist also das Leitmotiv für alles. Du sagst und zeigst es aber in Deiner Art, und da kommt wirklich Entwicklung und Verwandlung der Einzelnen zustande. Und dabei entwickeln wir uns mit. ♥️

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  2. Mitzi Irsaj schreibt:

    Wieder finde ich in deinem Akt so viele feine Bezüge freu mich, wenn mir manches bekannt ist, anderes neu ist.
    Eine gute Geschichte und ein Rätsel, dass ich vergessen hatte.

    Gefällt 1 Person

    • gkazakou schreibt:

      Wieder freue ich mich sehr über deinen Kommentar, Mitzi. Ich bin nämlich auf diese Szene ziemlich stolz, weil ich den Ödpus-Mythos mit dem Saint-Exupery-Spruch in etlichen Schritten zusammengeführt und dadurch die vorherige Streitszene nochmal grundsätzlich beleuchtet habe. Die Spiegelung der Rätselantwort (der Mensch) in der Frage (Was ist der Mensch?) lieferte mir die Struktur.

      Gefällt 1 Person

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