Was zuletzt geschah:
Jenny wurde von Kairos in den Raum der magischen Wunscherfüllung gebracht, den wir von Clara schon kennen. War es bei Clara das erwünschte „Taschengeld“, so ist es bei Jenny das ersehnte „Frühstück“, das vor ihr erscheint. Doch hat sie Angst zuzugreifen (Angstmacher Schurigel warnt sie vor den Folgen). Zwei feiernde Alte laden Jenny ein, sich zu bedienen. Doch traut sie ihnen nicht über den Weg. Da erscheinen Domna und Clara am Fenster.
Domna:
Hier bist du, liebes Kind? Willst mit den Toten speisen?
So ist es recht, so war es früher Sitte
als Lebende und Tote noch in tiefrer Weise
verbunden war΄n und sie in unsrer Mitte
durchaus geduldet und sogar willkommen
an unsrem Alltagsleben teilgenommen.
Jenny:
Was sagst du da? Du sagst mir, die sind tot?
Verdammt, mir schien, dass sie verzehren
als wäre nichts, normal ihr Abendbrot.
Mit Toten will ich lieber nicht verkehren.
Domna:
Sie tun dir nichts, ich komme auch herein
und setze mich mit ihnen an den Tisch
Sie mögen das, sonst sind sie oft allein.
Das Essen selbst ist hoffentlich noch frisch.
Jenny
Du willst mit denen essen? Du bist cool.
Du fürchtest nix, nicht mal den Höllenpfuhl.
Domna
Es gibt so Tage, wo die Toten wieder
wie sie’s zuletzt gewohnt, bei uns erscheinen.
Ich seh sie oft, ich kenn auch ihre Lieder
ich hör sie lachen, fluchen, greinen.
Jenny:
Du hast ja lustigen Verkehr
den brauch ich nicht, den kannst du gern behalten.
Ich hab auch keinen Hunger mehr
Ich werd mich doch nicht setzen zu den Alten!
Domna
Die Toten sind wie wir, woher auch sollten
sie andres wissen, als was sie im Leben
errungen haben, als sie alles wollten,
nur Weisheit nicht, die würde sich ergeben,
so dachten sie, wenn sie gestorben sind.
So denken ja all die, die grade leben
Und manche denken gar nicht, liebes Kind,
und sagen: wonach soll ich streben?
Nach diesem Leben ist ja Schluss und Ende
da tu ich eben jetzt, was mir gefällt.
Dann kommt der Tod. Woher die Kraft zur Wende
dann kommen soll, wenn schon der Leib zerfällt
und wie zu ändern ist, was sie zuvor getan
und trieben, dachten, wünschten und begehrten –
das weiß ich nicht. Es geht mich auch nichts an.
Das überlass ich gerne den Gelehrten.
Jenny:
Du sagst, die Toten sind grad so wie du und ich?
Ich glaub, du machst dich lustig über mich!
Die Toten sind ein Haufen Haut und Knochen
wie das gerupfte Huhn, das fertig ist zum Kochen!
Domna:
Das glaubst du, weil du meinst, was du vor Augen,
das sei auch schon die ganze Wahrheit.
Doch ich, weil meine Augen gar nichts taugen,
kann andres sehn und zwar mit großer Klarheit.
So seh ich deutlich, dass die beiden Alten
gestorben sind und dennoch essen wollen.
Denn dieser Wunsch erhielt sich beim Erkalten.
Wir müssen diesem Wunsche Achtung zollen.
Drum stellen wir den Toten dann und wann
ne Speise hin und schmücken sie mit Blumen.
Und jeder der zur Speisung kommen kann
der isst und trinkt und lässt den Vögeln Krumen.*
Jenny:
Na besten Dank! Wo hast du das gesehen?*
Domna
Was früher galt, das ist nun hier geschehen.
Du siehst es ja, es gibt hier Speis und Trank!
Mit ihnen sagen Lebende den Toten Dank.
Jenny:
Das mag ich nicht, das finde ich fatal!
und wie die Alte schlürft an ihrem Aal
das macht mich kirre, das halt ich nicht aus.
Mach was du willst, ich gehe lieber raus.
Domna:
Du Jenny bist ja frei zu machen was dir passt.
Ich aber setz mich zu den Toten hin
und wenn ihr mir was von den Speisen lasst
so ess ich die und bleib doch, die ich bin.
Domna, für sich:
Wie Orpheus spiel ich
auf den Saiten des Lebens den Tod…
Aber wie Orpheus weiß ich
auf der Seite des Todes das Leben…
(Ingeborg Bachman, Eurydike)
Die Poesie spielt immer an den Grenzen
wo Rauch die Formen leicht verwischt
wo ferne Sonnen in den Nächten glänzen
und fremd ein Stern im Nebelland erlischt.
Jenny
Dann lass die Speisen ich mir eben munden,
sie sind ja extra für mich hingestellt.
Es ist dies eine der höchst seltnen Stunden
Wo du zu essen kriegst auch ohne Geld.
*Anmerkung:
Domna bezieht sich hier auf Bräuche, die in Mexiko an den „Tagen der Toten“ noch sehr lebendig sind. Sie gehen zurück auf vorchristliche Überzeugungen. https://gerdakazakou.com/2017/11/01/tage-der-toten-in-mexiko-november-2006/
Tage der Toten in Puebla, Mexiko, 2006. (Leider habe ich die Originalfotos nicht mehr). Die jungen Frauen haben die eine Hälfte ihres Gesichts weiß mit dunklen Augenhöhlen geschminkt. Zwischen ihnen stehen große Schalen und Körbe mit Früchten und anderen Speisen. Im Hintergrund wird eine Art Hochzeitsdrama aufgeführt.
Kurze Lesepause… Nein, zu diesen Toten würde ich mich auch nicht setzen und mit ihnen speisen.
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Eine weitere Leseunterbrechung: Aber laß, das ganze Kapitel ist mir im Moment zu gruselig. Es sind ja meist Erdgebundene, die noch in Küchen und Kellern herumgeistern.
Daß unsere Vorfahren mit ihnen speisten, zeigt, daß sie sie ein Herz für die Verstorbenen hatten und helfen wollten, sie von dieser Sucht zu befreien, denke ich.
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Ja, es sind Erdgebundene. Guter Hinweis. 🙂
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So siehst Du das also auch, Gerda.
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Die Lebenden stellten den Verstorbenen Speise und Trank hin. Hier ist es aber umgekehrt: Die Toten bieten den Lebenden Speisen an. Die würde ich aber ablehnen.
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Es ist nicht ganz klar, wer die Speisen hingestellt hat. Würdest du sie denn nehmen, wenn du nicht weißt, wer sie hinstellte? 😉
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Ja wenn Du so fragst, sieht die Sache wieder etwas anders aus.
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Nach Ingeburg Bachmanns Gedicht wendet sich das Blatt. Und nun zieht wieder der gute Geist ein, zuerst in die Poesie. Domnas Lyrik übertifft dann die von andern.
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