„Als nächsten interviewe ich den Lebenskünstler“, verkündet Dora. „Überlebenskünstler“, korrigiere ich sie. „Ihm geht es nicht um die Kunst des Lebens, sondern des Überlebens.“
Dora guckt mich fragend an. Anscheinend versteht sie den Unterschied nicht. „Überleben bedeutet, nicht zu sterben, wenn es hart auf hart geht“, erkläre ich ihr. „Hör mal, was er in seiner Bewerbung schreibt!“
„Auch unter extremen Bedingungen weiß ich zu überleben. In der Stadt, im Wald, im Krieg oder auf dem Mond – es gibt kein „unmöglich“ für mich. Ich bin gewappnet, und du tätest gut daran, dir auch schon mal ein paar skills anzueignen. Weißt du denn, obs im nächsten Jahr nicht hart hergehen wird? Und was machst du dann, du Weichei? Pardon, ich möchte dir nicht zu nahe treten, nur warnen möchte ich dich: Bereite dich aufs Schlimmste vor – immer!
„Ich frag ihn am besten, was er mit bereite dich aufs Schlimmste vor meint, und warum das so wichtig ist“, überlegt Dora laut. „Wo finde ich ihn wohl? Auf dem Mond, im Wald, im Krieg oder in der Stadt?“
„Keine Ahnung“, gebe ich zu. „Versuchen wir es in der Stadt, da leben ja die meisten Menschen, also vermutlich auch die meisten Überlebenskünstler.“
Wir finden ihn in einem Lager an der städtischen Peripherie. Sein Outfit mit Baseballmütze, Gesichtsmaske, Ganzkörperisolieranzug in Tarnfarben und passenden Über- und Handschuhen zeigt, dass er wirklich gut für alle Eventualitäten gerüstet ist. Als Waffe trägt er eine Feder – nach manchen die gefährlichste Waffe der Welt.
Dora tänzelt auf ihn zu, vergisst ihre Frage und kräht stattdessen: „Guten Tag, ich bin Dora, die Reporterin. Darf ich Sie fragen, was Sie hier treiben?“ – „Ich kontrolliere die Uhren“, antwortet der Befragte bereitwillig. „Und warum? Was sind das für Uhren?“ – „Es sind Anzeiger für die Lage im Katastrophensektor. Ich schaue nach, ob die Zeiger vor Mitternacht stehen oder schon drüber hinaus sind.“ – „Aha“, macht Dora. Ich sehe, wie sie ihre Stirn in Falten legt. Das tut sie immer, wenn sie etwas verstehen möchte, es ihr aber schwer fällt. Schließlich räuspert sie sich und fragt: „Und? Wie stehen sie?“
Auf dieses Stichwort hat der Typ anscheinend nur gewartet. Jedenfalls strömen die Katastrophennachrichten nur so aus ihm heraus. „Die Uhr hier zeigt den Stand des Klimawandels an“, sagt er. „Da sind wir bei einer Minute nach Mitternacht. Und der Zeiger rückt jede Sekunde weiter vor. Diese Uhr zeigt den Ressourcenverbrauch. Da sieht es ein bisschen besser aus, aber nicht viel. Hier ist eine Uhr, die die atomare Bedrohung anzeigt. Die hat letzthin ein ziemlich rasantes Tempo vorgelegt. Diese Uhr hier zeigt die Welternährungslage an, und diese die Fluchtbewegungen. Ist alles in ziemlicher Eile. Und diese hier… “ –
„Geht’s ein bisschen langsamer, bitte?“ unterbricht Dora seinen Redeschwall. „Ich komme so schnell nicht mit.“ – „Langsamer geht’s nicht“, antwortet der Überlebenskünstler, „ich muss mich beeilen, um den Katastrophen zuvor zu kommen.“ – „Und wie machst du das?“ fragt nun Dora. Bravo! Genauso hätte ich auch gefragt.
Der Überlebenskünstler weist mit großer Geste auf die gestapelten Kisten, Kasten, und Transportbänder: „Hier hab ich alles, was ich für drei Jahre Überleben brauche. Dahinten siehst du den Eingang zu meinem persönlichen Atombunker, der ist voll ausgestattet mit Stromaggregaten, Batterien, Kerzen, Wasserfilteranlagen, die ganze Latte. Ich habe vorgesorgt und kann überleben, wenn alle anderen längst tot sind“
Dora beguckt sich die Sachen in der ersten Kiste, rümpft ihr Näschen und meint abfällig: „Also wirklich! All diesen Trockenmampf hast du angesammelt? Und mit wem willst du den teilen, wenn alle anderen weg sind? Das ist doch kein Leben!“ – „Es geht schon längst nicht mehr ums Leben, sondern nur noch ums Überleben“, doziert der Überlebenskünstler, aber Dora hat ihm bereits den Rücken gekehrt.
Dora hat Recht: nur Überleben reicht nicht.
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Genau!
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Allein zu überleben, wenn alle anderen tot sind, mit niemandem teilen? Ist das ein Leben?
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Nein.
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Ich hätte ihm auch den Rücken gekehrt … Den wer nicht lebt, aus Angst vor dem Tod, der ist schon tot, obwohl er lebt … LG
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So seh ichs auch, liebe Lore. Das Einzelleben geht bekanntlich immer tödlich aus,also wollen wir es ehren, solange es dauert-
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👏
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Kleine Dora, den lass den stecken!.Solche Typen -“ Hauptsache ich“- gab’s schon immer.Und die schöne Feder trägt er zu unrecht !!! …wenn ich an die vielen denke, die Dank ihres Schreibens Überleben BEWIRKT haben…aber eben nicht nur für sich…!
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Stimmt, liebe Elsbeth, die Feder ist für vielerlei zu gebrauchen. Die einen benutzen sie, um Angst zu schüren, die anderen, um die angstmachenden Zustände zu verbessern. Herzliche Grüße zum Wochenbeginn!
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Die Uhren kontrollieren, „um den Katastrophen zuvorzukommen“, – hm, ein interessanter Gedanke. „Nein, das geht nicht.“ meint Dora zu recht.
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Man liest ja immer, dass es 5 Minuten vor … sei, so als ob es darauf ankäme, die Uhren zu kontrollieren.
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Doras letzte Frage oder besser die Antwort darauf würde auch mich dazu veranlassen, nicht weiter nachzufragen. Es wäre ein trauriges Überleben.
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Die Logik der Preppers geht in diese Richtung. Womit ich nichts gegen vernünftige Vorsorge sagen möchte.
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Vorsorge ist gut und macht Sinn. Ich komme auch eine Weile gut über die Runden, seit ich das Einkochen für mich entdeckt habe. Auch Kerzen, Wasser usw habe ich im Keller und hoffe, dass ich teilen und nicht horten würde, wenn es hart auf hart kommt. Wahrscheinlich würde ich das allein schon aus egoistischen Gründen, weil ich ahne, dass ich es alleine eh nicht durch die Apokalypse schaffe. 😉
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Da bin ich ganz deiner Meinung, liebe Mitzi. Aber ich bin weniger konsequent. 😉
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wahr. Vorsorgen ist sicher nicht falsch, doch noch wichtiger ist es, die Gründe für katastrophale Entwicklungen zu beseitigen.
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Wie recht du hast 🙂
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Erst vor drei Tagen las ich eine Kurzgeschichte von nur einem Überlebenden in einer verbrannten Welt – ich wollte nie alleine überleben – alleine, kein Mensch, kein Tier, keine Pflanze, das ist kein Leben mehr.
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Das wäre fürchterlich!
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Ja. 😦
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Es ist wenig wahrscheinlich, Bruni, dass jemand ganz allein zurückbleibt. Wahrscheinlicher ist, dass etliche zurückbleiben, und da wird sich dann zeigen, ob die Menschen das Teilen gelernt haben oder sich totschlagen, um an die gehorteten Nahrungsmittel zu gelangen.
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Tja, das sind so Albträume. Wie ich schon bei Bruni sagte: wahrscheinlich ist das Szenario nicht. Bei einem Atomkrieg, zB, werden etliche überleben, und dann ist das größere Problem: werden die Menschen zu wilden Tieren oder sind sie bereit zu teilen und sich zu helfen?
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Da würde ich jetzt keine Prognose wagen, Gerda…
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