Ich schaue vom Platz, wo ich sitze, durchs Eulengitter hinaus aus dem Fenster, erblicke das Gemäuer der Umfriedung und darüber das Immergrün der Olivenbäume. Ein feines Netz rastert das Bild. Das ist die Jalousie aus dünnem Rohr, die vor dem Fenster hängt, um vor der starken Sonneneinstrahlung zu schützen. Mein Blick wird durch dieses Raster kaum behindert: ich sehe in dreidimensionaler Raumtiefe das Spiel von Licht und Schatten auf den Bäumen und der Mauer.
Auf dem Foto ist die Dreidimensionalität, die mein Gehirn durch meine Augen wahrnimmt, fast aufgehoben, und statt Licht und Schatten erscheint ein zweidimensionales „Gemälde“ von lichtschwachen Grau- und Grüntönen. Immerhin sind die dicken Feldsteine der Mauer noch gut zu erkennen. Muss ich vielleicht näher herantreten, um ein schärferes Foto zu erhalten?
Ich stehe also auf, trete näher ans Fenster heran und fotografiere nur den unteren Teil mit der Mauer. Aha, ja, die ist nun deutlicher zu erkennen.
Und wenn ich noch näher herantrete – wird sie dann noch deutlicher? Schritt für Schritt nähere ich mich. Überrascht stelle ich fest, dass zwar die Jalousie immer deutlicher, die dahinter liegende Mauer aber immer unschärfer wird, bis sie zu einem Hell-Dunkel-Muster verschwimmt
Mein Auge – auch das probiere ich aus – hat beim Nähertreten kein Problem damit, die Jalousie zu ignorieren und die Mauer, die Bäume, den Himmel in allen Einzelheiten wahrzunehmen. Nicht so die Kamera meines Handys, die an der nebensächlichen, aber direkt „vor Augen liegenden“ Sichtblende scheitert.
Ich fürchte, wie die Kamera funktioniert oft auch unser menschliches Hirn, wenn es darum geht, das größere Bid zu erkennen und das auszublenden, was uns wie eine Sichtblende „vor Augen gerückt“ wird.
Was das Hirn im natürlichen Raum gelernt hat – nämlich Unwichtiges selbst dann zu ignorieren, wenn es den Vordergrund beherrscht – kapiert es nicht unbedingt auch bei der Bewertung von Tagesnachrichten. Und so bleiben wir oft an „vor Augen liegenden“ Details hängen (zB Strompreis) und übersehen, was sich im Hintergrund abspielt. Das größere Bild verschwimmt uns in einem diffusen Nebel.
Ein sehr treffendes Bild.
Ja, man muss zurücktreten, muss inneren Abstand gewinnen, um das Ganze zu sehen. Wer emotional zu dicht dran ist, schafft das nicht.
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Wir sind uns einig. Die emotionale Aufladung von Detail-Infomationen, durch die die Wahrnehmung gefesselt und das große Ganze eingetrübt wird, ist leider charakteristisch für die mediale Berichterstattung.
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Ich denke, die Medien spiegeln nur wieder zu was sie von den Akteuren angeboten bekommen. Blow Ups sind doch schon lange Spieltaktik der Macht, besonderes bei der Kurie.
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In der Fotografie nennt sich dieser Sachverhalt “Tiefenschärfe”. Bei analogen Fotoobjektiven lässt sich über die Blende die Tiefenschaerfe steuern, so dass sowohl die Jalousie als auch die Wand scharf dargestellt werden können – wenn man es denn will. Liebe Grüße
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Danke, Jürgen, für deinen Hinweis auf „Tiefenschärfe“, die sich bei analogen Fotoobjektiven steuern lässt. Richtig. Das von mir geschilderte Phänomen ist typisch für ektronische Geräte mit Voreinstellungen, insbeondere Handys und also für die Hauptmasse von Fotogafien heute. Genauso „voreingestellt“ sind auch die meisten Medienberichte zum Tagesgeschehen, und nur weenige Konsumenten sind in der Lage und willens, die Tiefenschärfe eigenhändig einzustellen. Sie sind mit den Einstellungen, die ihnen geboten werden, zufrieden, zumal wenn ihnen genügend Anker geboten werden, um sich zu identifizieren, zu ängstigen und zu echaufieren.
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Die Analogie trifft zu. Die Journalisten machen eifrig mit, sich an einzelnen Symptomen abzuarbeiten.
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