Extraetüde (2) Erkenne dein Selbst *

Schreibeinladung für die Textwoche 05.21 | Extraetüden

Vorbemerkung:

Ich weiß nicht, ob du  den Roman von Anthony Burgess (1962) oder den Film von Stanley Kubrick „A Clockwork Orange“ (1972) kennst. Ich habe den Film gesehen, und einige der Bilder haben mich lange verfolgt. Der Held und Selbsterzähler Alex ist der völlig empathielose, grausame fünfzehnjährige Anführer einer  Bande, der aus purer Lust am Leiden tötet, erniedrigt, vergewaltigt. Bei seinen Untaten lässt Alex gern Beethovens Neunte erklingen.  Alex wird schließlich entmachtet, verurteilt und mithilfe einer extrem grausamen Gehirnwäsche umerzogen, so dass ihm das, was ihm zuvor Lust erzeugte,  nun Angst und Ekel hervorruft. Dadurch wird er selbst zum Opfer seiner früheren Opfer.  Am Ende des Romans, dem 21. Kapitel, wird Alex mündig. Aber der Verlag wollte dieses Ende nicht, das Kapitel wurde gestrichen. Man habe „moralischen Fortschritt“ als Möglichkeit nicht zulassen wollen, kommentierte Burgess. ( “My book was Kennedyan and accepted the notion of moral progress. What was really wanted was a Nixonian book with no shred of optimism.”)

Burgess sagt, er habe den Ausdruck  „a clockwork orange“ im Sinne von „völlig durchgeknallt“ in einem Londoner Pub aufgeschnappt.  Für seinen Roman zum Thema Gehirnwäsche habe er ihm eine weitere Dimension hinzugefügt: nämlich die Verbindung von etwas Organischem, Lebendigem, Süßem – dem Leben, der Orange – und dem Mechanischen, Kalten, Disziplinierten – dem Uhrwerk. Er habe das Entgegengesetzte im Oxymoron „A Cockwork Orange“ verbunden.

Mir scheint, dass dieses Oxymoron dabei ist, in KI, der hybriden Mensch-Maschine, Gestalt anzunehmen und unser Leben zu beherrschen.

„2015 wählten 82 internationale Literaturkritiker und -wissenschaftler den Roman zu einem der bedeutendsten britischen Romane“, so zu lesen bei Wikipedia.

Und hier nun meine Etüde:

Erkenne dein Selbst

“If a man cannot choose he ceases to be man”

 auf Deutsch:

„Kann ein Mensch nicht mehr wählen, hört er ein Mensch zu sein auf“.

Dies ist die Message. Versteckt in grässlicher Hülle

Denn erschütternd ist das, was der Mensch sich so wählt.

Er wählt die Gewalt, er tritt, er erniedrigt

Er besudelt die Erde, er freut sich am Schmerz

Des unterworfnen, des hilflosen Menschen

Wer kann ihn denn hindern, wenn er, ganz berauscht

Im Vollgefühl seiner Macht und unter den Klängen

Der himmlischen Töne, die aus den Lautsprechern quellen

O hört, die Neunte ertönt, sie tönt über winselnden Köpfen

Welch Grau’n! Das wussten sie immer, die Schinder

Musik zu gebrauchen als Antrieb und auch als Verhöhnung.

Du bist weichmütig, schreist womöglich Zetermordio

Und sagst, hier müsste man gründlich was ändern

Den Bösewicht müsste man zwingen, ein Guter zu werden.

Ja zwing nur, benutz nur die Mittel, die der Böse ersann

Um das Gute zu schaffen, es wird nicht gelingen.

Du kannst aus Gift und Moder und Qualm

Keine bekömmlichen Brötchen dir backen.

Du kannst nicht verändern, wenn selbst du die Bestie bleibst

Wenn in dir dieselben grausamen Bilder regieren

Die draußen sich zeigen. So erkenne dein Selbst

Und werde dir selbst erst zum Vorbild.



Heute sah ich in Kalamata ein orange Spraybild, das zwar keine Illustration zu meinr Etüde darstellt, wohl aber eine Parallele enthält: denn in den Kopf der Mona Lisa ist ein Fremdes implantiert worden.

*Ich habe den Titel der Etüde (A Clockwork Orange) nachträglich geändert, denn es geht mir nicht um den Roman oder den Film, sondern um die aktuelle Schlussfolgerung. Der Roman ist nur der Bezugsrahmen und gab mir die Bilder. Er ging mir wegen seines Titels nicht mehr aus dem Sinn, seit ich das Wort „Orange“ las.

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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26 Antworten zu Extraetüde (2) Erkenne dein Selbst *

  1. Werner Kastens schreibt:

    Mit Waffen kann man keinen Frieden stiften, das ist doch auch eine Erkenntnis, die nicht befolgt wird. Und so lässt man die Trommeln und Märsche weiter ertönen.

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  2. Lopadistory schreibt:

    Ich kann mich noch gut an den Film erinnern. Er war für die damalige Zeit „extrem“ und das empfand ich auch so. Für mich eines der unerfreulichen Werke der Filmgeschichte. Aber wie das Leben lehrt, wird meist das zur Kunst erhoben …

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    • gkazakou schreibt:

      Ja, der Film war schrecklich, er hat mir Alpträume erzeugt. Aber warum? Weil ich diese empathielose Grausamkeit einerseits, die entsetzliche „Umerziehung“ andererseits als durchaus realistisch anerkennen musste. Es wurde als Dystopie dargestellt, war aber genauso eine Reminiszenz an das, was in den Lagern geschah. Und die Entwicklung hin zur Mensch-Maschine ist in vollem Gange. – Insofern wird das Buch zu Recht auch heute verlegt.

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    • gkazakou schreibt:

      Ja, wahrhaftig. Mir graust es. Und eigentlich will ich es nicht wissen. (leider weiß ich es)

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  3. Melina/Pollys schreibt:

    Ich hab Clockwork orange vor langer Zeit mal als Bühnenwerk gesehen, danach hatte ich keine Lust mehr das Buch zu lesen oder gar den Film zu sehen… die Etüde gespeist aus diesem Werk, -erinnerte mich an eine tatsächliche Geschichte und zwar an Mugabe, der ja schreckliche Menschenrechtsverletzungen in seinem Land begangen hat und als ich hörte, dass er gestorben war – entfuhr mir: Gott, der tut mir leid. Warum? Weil ich deutlich vor mir sah, wie er (durch meinen Glauben gesehen) nun all das was er anderen antat – nun fühlen musste – und erkennen was er Körper und Seelen seiner Untergebenen antat. Nicht aus Strafe, sondern weil er nun erkennen musste, wie sehr er Leid über die Menschen brachte. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir alles was wir anderen antun – wir im Tode nochmal betrachten müssen um zu verstehen und zu begreifen, dass wir alles anderen antun – uns selbst antun – denn wir sind alle eins.
    Und zur Gehirnwäsche… der Umpolung von Lust zu Schmerz, dieses Menschenversuchs der Berichtigung – mag unserem Bedürfnis nach Strafe vielleicht als gerecht erscheinen – aber eigentlich ist es nur – wenn man es schafft so zu sehen – die logische Konsequenz, wenn zu extrem die eine Seite lebt – muss auch die andere erfahren werden. Und ich glaube, dass dies eben die Lernaufgabe aller ist, die sich hier auf der Welt herumtreiben. Und mich würde das weggelassene Kapitel sehr interessieren, wo finde ich das – oder wurde das nie publiziert?

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    • gkazakou schreibt:

      Ich sehe es so wie du. In dem Buch wird das, was sonst vielleicht in zwei drei Leben geschieht, auf eine kurze Zeit zusammengezogen. Der „Held“ erfährt, was er tut, am eigenen Leib. Leider weiß ich nicht, ob das letzte Kapitel irgendwann gedruckt wurde (ich vermute, ja). Es gibt, las ich, auch eine Weiterarbeit von Burgess zum Thema, man fand sie vor zwei Jahren in seinem Nachlass. Aber veröffentlicht wurde sie anscheinend noch nicht.

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  4. finbarsgift schreibt:

    Beeindruckend deine Etüde… grausam der Film in meiner Erinnerung. Ungehörig das alles mit einem der großartigsten Musikwerke aller Zeiten zu verknüpfen!
    *Kopfschütteln * Kunstverbrechen!!
    Herzliche Morgengrüße vom Lu

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    • gkazakou schreibt:

      Danke, Lu. Eben habe ich den Titel meiner Etüde geändert. Erklärung unten imText. Die Musik in dieser Weise zu missbrauchen – dies war eigentlich das Schändlichste am Film. Es machte mich fertig. Doch ich wusste, genau das war in den Lagern geschehen. Die Musiker unter den KZ-Insassen, die ihre Schergen bei Laune halten mussten.

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  5. TeggyTiggs schreibt:

    …was für ein schrecklicher Film! …hätte ich vorher gewusst, was gezeigt wird, hätte ich ihn mir nicht angeschaut…
    …die Verherrlichung der Gewalt ist eines der größten Übel, denn dadurch wird sie zur Normalität erhoben…

    …der Mensch an sich ist gut, muss er als soziales Wesen sein, sonst könnte er nicht überleben…doch es herrschen Energien auf der Erde, wie Viren, die ihn grausam werden lassen und daran wird seit seiner frühesten Kindheit gearbeitet…(aber ich will das hier nicht weiter ausführen)

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    • gkazakou schreibt:

      Danke für deinen Kommentar, TeggyTiggs, ich hoffe, du hast dir den Film nicht gestern angetan. Ich würde ihn mir sicher kein zweites Mal anschauen. Ich bin sehr vorsichtig geworden, sehe mir nur noch Filme an, die für Menschen „ab 8 Jahren“ geeignet sind. Die ungeheure Verbreitung von Gewaltszenen im TV und bei den „Spielen“ für Kinder und Jugendliche ist allerdings ein Fakt, den ich durch Wegschauen nicht aus der Welt schaffe. Die „Viren“ oder „Energien“, von denen du sprichst, scheinen sehr gut daran zu verdienen, denn warum sonst würden sie so was herstellen und verbreiten? Auch scheint es in den Menschen etwas zu geben, was sie zum Anschauen und auch zum Ausüben von Gewalt hinzieht.
      Dass der Mensch „von Natur aus“ gut sei, weil er ein soziales Wesen sei, halte ich für einen Fehlschluss. Genauso wenig halte ich von der These, er sei von Natur aus böse (Sündenfall). Menschen sind zum Guten UND zum Bösen befähigt. Sie sind frei zu wählen. Das ist das Besondere des Menschseins. Daher auch das zu Anfang meiner Etüde gewählte Zitat (aus dem Roman): „Kann ein Mensch nicht mehr wählen, hört er auf, Mensch zu sein“.

      Die „Energien“, von denen du sprichst, sind wohl das, was man früher „böse Geister“, „Dämonen“, „Teufel“ oder „Versucher“ nannte?

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      • TeggyTiggs schreibt:

        …nee, das ist schon lange her und Kubrick werde ich meiden wie die Pest…nur die Musik, er hatte gute Musik, erinnere ich mich…

        …ich bin sicher, die Gewalt in Filmen und Spielen ist Absicht, durch Filme und Spiele werden Werte vermittelt und das geschieht nicht zufällig, Menschen werden zu Anschauungen und Verhaltensweisen geführt, vor allem bei Kindern werden Grundlagen geschaffen, nach denen sie später handeln sollen…jeder gegen jeden, am besten viel Angst voreinander, der Stärkste ist der Mächtigste, keine Solidarität mehr, kein Mitgefühl, kein Miteinander…usw.

        …doch, ich bin sicher, der Mensch ist von seiner Anlage her gut, doch scheinen hier auf der Erde Kräfte zu herrschen, die ihn in die falsche Richtung führen und nicht nur das Gute im Menschen, sondern den Menschen selbst zerstören wollen…

        …ich denke, wir befinden uns auf der materiellen Ebene, der Ebene, wo die Energien am dichtesten sind und sich die dunklen und die lichten Kräfte treffen, so ist hier alles möglich…wir sind hier, um zu lernen und mehr Licht zu bringen…und diese Ebene, jeder für sich, zu überwinden….und wie die dunklen Kräfte zu benennen sind…? Teufel und Dämonen sind mir zu einfach, zu sagenhaft, ich denke, mir fehlen dafür die Worte…schlechte Kräfte, die sich gegen das Leben an sich richten, gegen die Liebe, gegen die Freude und gerade so tun, als können sie mit ihren Lügen ihre Macht erhalten…können sie nicht…grins

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  6. Christiane schreibt:

    Ich habe den Film vermutlich nicht gesehen, nach deiner Beschreibung hätte er bei mir böse Spuren hinterlassen und ich würde mich erinnern. Deiner Etüde stimme ich zu: Gleiches mit Gleichem zu bekämpfen, bringt keinen weiter; aber das wirft die alte Frage nach den Mitteln in der Auseinandersetzung zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“ auf, die zu führen ist, egal, wie Akteure und Aktion definiert sind …
    Ach Gerda, ein weites Feld. Danke dir für die Etüde. 😉
    Morgenkaffeegruß 😁☁️☕🍪👍

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    • gkazakou schreibt:

      Danke, Christiane, sicher hast du den Film nicht gesehen, und du solltest ihn dir auch jetzt nicht antun.
      In meiner Etüde schlage ich vor, das „Selbst“ zu betrachten, das mehr ist als das Ich und dessen in einem Leben gewonnene Haltungen. Meine Überzeugung ist, dass ein Mensch nicht als „tabula rasa“ auf die Welt kommt, sondern mit schweren Lasten, großen Talenten und reichem Wissen aus vielen früheren Leben. Insofern ist jeder von uns zwar ein Individuum und nur für sein eigenes Handeln verantwortlich, aber in seinem Selbst resoniert er mit der gesamten Menschheit – auch mit ihren finstersten Seiten. Das ist, meine ich, in dem Spruch von Delphi ausgedrückt. Und darin liegt auch die Lösung.
      Liebe Grüße nach Hamburg! Gerda

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  7. lachmitmaren schreibt:

    Ich habe den Film auch nie gesehen und würde ihn mir auch niemals antun (mir verursachen schon weit harmlosere Szenen nächtelange Alpträume). Aber deinen letzten Satz, den finde ich so wichtig: „Erkenne dein Selbst und werde dir selbst erst zum Vorbild.“ Dieses Nachinnengehen ist der Menschheit schon so lange abgewöhnt worden (oder hat sie sich selbst abgewöhnt). In dem Punkt denke ich / hoffe ich, dass der Lockdown vielleicht auch eine Chance sein könnte. Es gibt einfach nicht mehr so viele Möglichkeiten, dem eigenen Innern auszuweichen und sich nach außen zu zerstreuen. Sich zerstreuen zu lassen, indem man anderen die Chance gibt, einen zu zerstreuen (na ja, für Letzteres gibt es natürlich noch sehr viele Möglichkeiten, aber vielleicht steigt die Erkenntnis, dass man die Wahl hat, was man zulassen möchte …).

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  8. gkazakou schreibt:

    In einem bin ich nicht einverstanden; sein Selbst erkennen ist nicht gleichzusetzen mit Innenschau. Die Welt ist der Spiegel des Selbst, In ihm erkennst du dich. Nimm die Alpräume, die solche Filme erzeugen (auch bei mir, sogar die Erinnerung an den Film, den ich vor 40 Jahren sah, quält mich bis heute) – sie spiegeln etwas in uns. Sonst würden sie uns kalt lassen. Mich quält auch die Erinnerung an Taten, die ich selbst nie gesehen habe und an denen ich unbeteiligt war, aber von denen ich WEISS. ZB die Untaten in den KZs. Ich dachte oft, als ich klein war: hier ist ein Mensch vor mir, was hat er in seinem Leben getan und verschwiegen? Ich möchte ihn lieben, aber da steht etwas zwischen uns: das Verschweigen. Ich muss es wissen, denn es gehört zur Welt und zu uns als Menschen.

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  9. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 06.07.21 | Wortspende von Wortman | Irgendwas ist immer

  10. mikesch1234 schreibt:

    1979 oder 1980 habe ich den Film gesehen. Mit der WG. 2 Paare waren wir.
    Das andere Paar war schockiert.
    Abweisend. Ablehnend. Das war alle soooo böööööse!!!

    Mein Freund und ich hatten offenbar „einen andern Film“ gesehen.
    Gewalt, ja,
    Gewalt, die tief ging … bis unter die Haut.
    Gewalt, die da war.
    Immer.
    Wo nur wir,
    in unseren studentischen Extremsituation …
    NIE
    r i c h t i g hinschauten,
    hinschauen mochten …
    Selbstschutz …

    Ich war und bin immer gegen Gewalt.
    Kubricks Film hat mich da nochmals zutiefst bestärkt.

    Und doch ist so unvorstellbar viel Gewalt in unserer Welt
    schon im Kleinen
    in der Nähe
    wenn wir nur an die Kinder momentan denken
    was sie erleiden
    aushalten müssen

    Mit „Abstand“ geht GEWALT
    viel leichter.
    Mit „Abstand“ verlieren die Gefühle,
    dias Sich-Einfühlen in die andere,
    den anderen …

    … und dann man immer feste druff …

    … mir kommen die Tränen …
    Trauer
    Verzweiflung
    Heiliger Zorn!

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  11. Weil vieles so böse ist, könnte man den Engel in Mona Lisas Kopf vielleicht auch als Hoffnungszeichen snsehen.

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  12. Achim Spengler schreibt:

    Vorausgesetzt, dass der Mensch kein unteilbares Gutes ist, oder nach Kant, dass das Böse ein immenser Bestandteil der menschlichen Natur ist, ist der Tatbestand des Bösen im Film zuallerst einmal Ausdruck des Auslebens individueller Willensfreiheit. Das Böse auszuleben, in seinen groteskesten Formen und zynischsten Zuspitzungen ist schon immer einhergegangen mit ästhetischen und anderen auf Genuss ausgerichteten Überformungen (im Film: Beethovens Symphonie oder die Choreographierung der Prügelorgien als eine Art von „dance macabre“; oder die in manchen Konzentratioslagern zusammengestellten Musikorchester mit den Opfern des Holocausts) und aus der Sicht der Täter etwas vollkommenes Zweckfreies, wenn man im Kontext des Films unter Zweck etwas verstehen könnte, was das individuelle Lustempfinden übersteigt hin zu einem irgend ethisch gestaltetem gesellschaftlichen Ziel. Insofern nimmt das ausgelebte Böse im Film eine Anleihe an das Böse bei de Sade, als ein von allen gesellschaftlichen, religiösen oder sonstigen Zusammenhängen disloziertes, befreites und befreiendes Böses. Das von dir angesprochene „Erkenne dich selbst“ macht insofern nur Sinn, wenn dieses Selbst für sich eine gesellschaftlich geforderte moralisch-ethische Verantwortung zum Guten anerkennt und darin gleichermaßen die Freiheit seines individuellen Willens zu erkennen und aufrechtzuerhalten vermag. Eine dem Täter des Films genommene Willensfreiheit, als Spiegelbild einer Pädagogik, einer Erziehung hin zum Guten, ist eine Ultima Ratio in Form der Kastration böser Tendenzen in jedem Einzelnen, eine Art wiederum menschenverachtende Eugenik. Ihren Zweck im Film hat sie nicht erreicht, weil es die menschliche Willensfreiheit zum Bösen, diesmal auf Seiten der Opfer, nicht unterbinden konnte.

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  13. gkazakou schreibt:

    Danke für deinen ausführlichen Kommentar, Achim. Meine kurze Antwort: Eine menschenverachtende Pädagogik („Eugenik“) KANN ihr Ziel nicht erreichen, weil sie die Täterschaft nur verschiebt – vom „zu erziehenden Subjekt“ (das zum Erziehungs-Objekt wird) auf das „erziehende Subjekt“. In summa – bezogen auf „den Menschen“ als transzendentales Subjekt – bleibt alles beim Alten.
    Die einzige Möglichkeit für „moralischen Fortschritt“ besteht meines Erachtens darin, das Ich zum Selbst zu erweitern – wobei ich das Selbst mit „dem Menschen als transzendentales Subjekt“ gleichsetze, das, so meine Annahme, zum Guten hinstrebt.

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