„In Bonn studierte er Vermessungskunde und erhielt nach dem Studium eine Anstellung als Vermessungsingenieur bei der damaligen Deutschen Reichsbahn. … “ „Die Natur zu vermessen, bedeutete für ihn aber nicht nur eine Vertiefung in exakte Rechenarbeit. Im Grunde bedeutete es nämlich, sich dem gesamten Naturraum beobachtend zu nähern, ihn in seiner Eigenart zu erschließen, ihn in Segmente und Bruchstücke zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen…“ (S. 143-4)
So las ich in Hanns-Josef Ortheils Roman „Die Erfindung des Lebens“, 2009 bei Luchterhand verlegt und mir, da ich über einen Mangel an gescheiter deutschsprachiger Lektüre klagte, von einer sehr lieben Freundin zugeschickt. Schon um nicht undankbar zu erscheinen, aber auch und vor allem, weil mir dieser Vater in bester Erinnerung geblieben ist, möchte ich ihm meine dritte abc-Etüde zu Werners Wörtern widmen. Welch ein Vater! Er lässt monatelang seine geliebte verstummte Frau allein, er setzt mit seiner geliebten Arbeit als Landvermesser aus – und warum? Um seinem ebenfalls verstummten Sohn nach einem desolaten Fehlstart in der öffentlichen Schule einen kreativen Zugang zur Welt der Bildung und des menschlichen Miteinanders zu verschaffen. Die Gesundung des Kindes würde, so war er überzeugt, über „die große Natur“ möglich sein, „die beste Schule, die es überhaupt gibt …“ (S.143).
Ach, hätten doch mehr Kinder solche Landvermesser zu Vätern, möchte ich ausrufen. Wäre mein Vater ein solcher gewesen? Er war Architekt, plante und realisierte ein paar Siedlungen, bevor er, weniger glücklich als Ortheils Roman-Vater, irgendwo zusammengeschossen liegenblieb und starb.
Ich selbst plane weder Siedlungen noch den Verlauf von Eisenbahnlinien. Das einzige, was ich in dieser Hinsicht gelernt habe, ist, Landschaften mit dem Stift in der Hand zu vermessen, indem ich ihn mal so, mal so halte, den wichtigsten Linien vor meinen Augen folgend, um sie dann analog auf mein Papier zu übertragen. Wie hier bei einer Kohlezeichnung der Landschaft Samothrakes.
Die Zeichnung der Landschaft von Samotrake ist Dir sehr gelungen, Gerda. Der Vater aber …. wurde nicht „irgendwo zusammengeschossen“. Ich halte sein Bild in Ehren.
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Ich halte ihn in Ehren, nicht sein Bild, liebe Gisela.
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☆ Samothrake
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Liebe Gerda, diesen Roman von Ortheil habe ich vor einigen Jahren gelesen. Wie du, war ich sehr berührt von dem Vater. Ich habe danach noch einige andere Bücher von Ortheil gelesen, er hat mich nie enttäuscht, mit das schönste von ihm, so empfand ich, ist: Liebesnähe. Das allerdings haben nicht alle so empfunden, denen ich das Buch ans Herz gelegt habe. Ich würde es dir schicken, aber leider steht es nicht mehr in meinem Regal. Ich hab es wohl verliehen, nur wem …?
Liebe Grüße
Ulli
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Danke, Ulli. Ich habe auch einige Ortheil-Bücher gelesen, doch trotz unbestreitbarer sprachlicher Qualitäten und guter Lesbarkeit bin ich nicht wirklich warm mit ihnen geworden. Irgendwas hindert mich, mit seinen Protagonisten Sympathie zu haben. 😉
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Schade!
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Ich erinnere mich sehr dunkel an ein Leseerlebnis vor fast 30 Jahren. Da ging es mir ähnlich. Ich wurde nicht warm mit ihm. Zu viel Ironie und Pose zu wenig Herz war mein Eindruck.
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Ich weiß nicht, liebe Marion, ob wir dasselbe meinen. Ironie jedenfalls habe ich bei Ortheil nicht wahrgenommen (ich mag Ironie ganz gern). Vielleicht liest du ja nach so vielen Jahren ein anderes Buch von ihm und findest es sehr gut – wer weiß. Vor 30 Jahren hatte Ortheil ja noch fast nichts veröffentlicht.
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Ich kenne das Buch nicht, und so schön, wie ich deine Zitate finde (und ja, wo sind diese Väter?), eine nüchterne Frage drängte sich mir beim Lesen spontan auf: Wieso konnte er sich das leisten, war seine Familie nicht von seinem Einkommen abhängig? Bestimmt sprengt das den Rahmen der Etüde, aber gibt es im Buch darauf eine Antwort?
Danke dir zum dritten Mal für eine Landvermesser-Etüde. 😉
Liebe Grüße aus dem dunkelnden Hamburg
Christiane 😀
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Tja, das sind so Fragen. Genaues schreibt Ortheil nicht dazu, aber es gibt eine gutgehende Gastwirtschaft mit Landwirtschaft, wo der Vater aufwuchs und nun, wo er dort mit dem Sohn unbezahlten Urlaub macht, auch aushilft. Die Lebenshaltungskosten dürften niedrig sein. Allerdings behalten sie auch die großbürgerliche Kölner Wohnung …. Kurzum, das, was hier beschrieben wird, lässt sich nicht ohne weiteres übertragen. Ich lese grad einen anderen Roman mit ähnlichem Titel und einem ebenfalls fast stummen Kind als Potagonisten, „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler. Da heißt es lapidar: „Als Kind hatte Andreas Egger nie geschrien oder gejubelt. Bis zu seinem ersten Schuljahr hatte er nicht einmal richtig gesprochen. Mit Mühe hatte er sich eine Handvoll Wörter zusammengesammelt, die er in seltenen Momenten in beliebiger Reihenfolge aufsagte. Reden hieß Aufmerksamkeit bekommen, und das verhieß wiederum nichts Gutes“. Dieses Kind hat keinen Vater und auch die Mutter ist gestorben, als er drei war und in die Gewalt eines fernen Verwandten überstellt wurde. Abgründe dazwischen.
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Deine Landschaftszeichnung mag ich sehr, liebe Gerda. Sie erinnert mich an die leicht eckige Strichführung von Franz Marc, der einen Hauch geometrischer Flächenstrukrur in vielen seiner Gemälde zeigt. Ich meine fast, die Etappen des Maßnehmens von Winkeln mit dem Stift am ausgestreckten Arm zu sehen und die Übertragung in die Zeichnung gleich danach. Wieder und wieder, geduldig, bis die vielfältige Landschaft auf dem Papier erscheint.
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Danke, Ule, so wars gemeint. Ob es auch so entstand, weiß ich nicht mehr.
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Liebe Gerda, kennst Du von ihm „Der Stift und das Papier“ das, 2015 erschienen ist und autobiographisch das erste Buch ergänzt? Vieles kennt man aus der Erfindung des Lebens schon. Er führt im übrigen einen sehr schönen Blog
https://www.ortheil-blog.de/
Lieber Gruss zu Dir, Karin
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vielen Dank, Karin. Ich schau mall in seinen Blog. .
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Deine Kohlezeichnung ist wundervoll, total ausgewogen und harmonisch.
An sie hat Dich am Ortheils Erfindung des Lebens erinnert? Wie gut, so können wir sie hier bewundern.
Der Vater, so entschlossen wie geduldig wußte genau, wenn es sein kleiner stummer Johannes in der Schule nicht schaffen konnte, dann ging es nur in der Natur und da wußte der Vater genau Bescheid. Er glaubte an den Sohn und der Sohn an den Vater. Ich hab es mit Genuss gelesen, liebe Gerda, und mir gewünscht, mein Vater hätte auch so an mich geglaubt…
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Ja, diese beiden Teile – seine Kindheit mit der Mutter, das Scheitern in der Schule und das Lernen mit dem Vater – haben mir sehr gefallen, sie sind eindrücklich geschrieben und vom Inhalt her ganz besonders. Ich habe auch Anregungen daraus genommen, zB die Verbindung von Abbildung und Wort zu einem Bild. Auch das übrige Buch las ich gern, aber die dort vorkommenden Personen (incl Autor) und Verwicklungen interessierten mich nicht wirklich und es blieb nicht viel hängen. .
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so ähnlich ging es mir auch. Seine Kindheit mit allen Verwicklungen blieb hängen, seine Zeit später in Rom verschwindet dahinter
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