Was ich in der ASKT sah: Rituale, offene Räume und mehr

Ich begab mich in der Hochschule für Bildende Künste (ASKT) in Athen, um die Künstlerin zu sehen und zu hören, die mir so großen Eindruck gemacht hatte:  Cecilia Vicuña (Jg. 1948) aus Chile. Eine schmale Frau mit langem angegrautem Haar und einem so wundervollen Lächeln, dass ich bereit bin, alles, was sie sagt, in mein Herz aufzunehmen.
Zuerst singt sie, sehr melodisch klingt es, magisch, wie aus einer fernen Welt. Dann spricht sie, oder soll ich sagen: sie flüstert? Ja, sie flüstert, mit mitreißendem Rhythmus schleudert sie flüsternd ihre Geschichten heraus, und wir lauschen. Sie spricht über ihre Kindheit: die indianische Mutter enttäuscht, dass das Kind vom weißen Erzeuger weder männlich noch weiß ist. Der Kampf um die eigene Identität. Kunst mit dem roten Wollfaden, sie demonstriert es. Die chilenischen Frauen wollen nicht über Menstruation reden, doch sie ist eine Kämpferin, sie macht die abgelehnte Weiblichkeit zu ihrem Thema.
Die Videos, die sie zeigt: eines ist aus Chile, die anderen beiden sind aus Griechenland: Eleusis und die See. Du kannst vieles von ihr im Internet finden, dies nicht. Und ich kann es dir nicht geben, außer ein paar schwachen sceen-shots. Da ist eine riesige Rolle aus unversponnener weißer Wolle, sie wird ausgerollt über die Felsen hinab zum Meer. Zwei Menschen rollen mit. Andere warten, sie werden dieser weißen Wolle folgen, sie wieder einrollen und hinablassen ins Wasser, werden sie spülen und ihr nachspüren, bis sie eins geworden ist mit dem Meer. Andere werden verbunden durch rote unversponnen Wolle, Flocken und Fladen von roter Wolle, die zusammenhängt und die Menschen miteinander verbindet. Sie werden hinabgehen zu der weißen Wolle, werden ganz still werden und dann, in einer neuen Bewegung, ihre Hände heben, sie schließlich vereinigen.

Besser kann ichs leider nicht sagen.

    (Zum Vergrößern anklicken)

Viele der Menschen, die in dem Video zu sehen sind, sind auch beim Vortrag dabei. Ich habe leider nur diesen indirekten Zugang, doch spüre ich die Kraft des Rituals, seine Schönheit. Und ich werde durch die flüsternde Stimme der Künstlerin, durch ihren Gesang, Teil des Erlebens. 

In der Halle „Nikos Kessanlis“, die ich danach besuche, um die Exponate der documenta zu betrachten, verfliegt die Magie. Ich finde keinen Kontakt zu den Werken. Da ist etwas, das sich „offene Stadt“ nennt, es berichtet von einem sicher sehr interessanten Experiment des Zusammenlebens, doch hier, in der leeren Halle, fühle ich nichts davon.

Ciudad Abierta

Amereida Phalène Latin South América. 2017
Archiv- und dokumentarisches Material

Die Ciudad Abierta (Offene Stadt) ist Kommune, pädagogisches Experiment und praxisnahes Architekturlabor in einem. Sie wurde von einer Gruppe umherziehender Künstler_innen und Dichter_innen auf einem verlassenen, windumtosten Landstrich aus Gras und Sand am Rande des Pazifischen Ozeans gegründet, etwa dreißig Kilometer nördlich der chilenischen Hafenstadt Valparaiso.
(Aus einem Text der documenta 14)

Dann ein riesiger Saal mit Plastik-Müll und seltsamen Gebilden, die darüber wachen.

Bonita Ely

Plastikus Progressus: Memento Mori. 2017
Plastik, Zellophan, Metall, Fotografien, Ton, Papierarbeiten, Touchscreen

* 1946 Mildura, Australien.

In einem anderen Saal eine sorgfältig gearbeitete Reihe von Bildern aus Stroh, auch größere Matten, die in hölzernen Gestellen hängen. Sensibel und formschön. Die sind von einem jungen Deutschen, aber was tun sie hier?  Irgendwie tun sie mir leid: so geehrt und zugleich so deplaziert erscheinen sie mir hier in der Öde des Ausstellungssaals.

Olaf Holzapfel

Mehrere Werke, zwischen 2013 und 2017

* 1967 Dresden, Deutschland.

(Zum Vergrößern anklicken)

Schließlich bleibe ich vor zwei feinen gerahmten Zeichnungen stehen, die mich wirklich interessieren. „Echoraum“ nennen sie sich. Sie sind von Agnes Denes, aus dem Jahr 1970. Die vielseitige Künstlerin 1931 geboren in Budapest. Noch eine hoch interessante Frau, die ich erst in diesen Tagen entdecke. Und die mich versöhnt mit dem, was sich hier als „Zeitgenössisches“ so gutmeinend und hilflos darbietet.

das Leben des Mannes: ein Echo

das Leben der Frau: ein Echo

 

Avatar von Unbekannt

About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, alte Kulturen, events, Fotografie, Kunst, Leben, Mythologie, Natur, Psyche, Therapie, Vom Meere abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

13 Responses to Was ich in der ASKT sah: Rituale, offene Räume und mehr

  1. wow, die beiden echobilder sind wirklich hochinteressant! ein wechselspiel von rundung und winkeln… symmetrisch ist beides, aber doch ganz unterschiedlich in der wirkung.
    spannend. da müsste man jetzt beide bilder mal ganz genau betrachten, was jedes ausmacht.
    danke für die eindrücke in diesem und auch letztem beitrag, liebe gerda!

    Gefällt 3 Personen

    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Sehr gerne, liebe Versspielerin! Die Bilder sind auf den Fotos gut zu erkennen, im Original kommen sie an der eher dunklen Wand nicht so zur Geltung. Ich habe den Eindruck, dass ich diese Künstlerin näher kennenlernen möchte….

      Gefällt 2 Personen

  2. Avatar von Gazelle3 afrikafrau sagt:

    wieder verfolge ich die von dir so intensiv dargestellten mystischen Zusammenhänge, die Kunst,
    (Ausnahmen) austrahlen kann und eine beeindruckende Wirkung dann ausübt….danke gerda

    Gefällt 2 Personen

    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Ich freu mich, dass etwas davon rübergekommen ist. Solche Rituale muss man eigentlich im eigenen Leib mitmachen und nicht in dreifacher virtueller Verdünnung. Aber besser als nix, sage ich mir.

      Like

  3. Vielen Dank Gerda, für den ausführlichen Bericht!
    Mir gefallen die Werke von Olaf Holzapfel ganz besonders gut! Mit Linien Dreidimensionalität, Räumlichkeit und Tiefe herzustellen ist faszinierend!

    Liebe Gute Nacht Grüße Babsi

    Like

  4. Welch eine Fülle!!
    Spontan gefällt mir das Bast-Bild von Holzapfel sehr gut.

    Bzgl. Plastik: Vor 2 Jahren einen Film über die Abfallentsorgung in einer brasilianischen Großstadt gesehen. Der Filmmacher portraitierte einieg Müllarbeiter, also Leute, die aus dem Abfall auf den Deponien zeitparallel Plastikflaschen fischten. Der Filmmacher inszenierte ein großes Kunstwerk in einer Halle, ganz aus Abfall aufgenbaut.Um den Abfallsammlern ihre Würde zu geben.

    Zur ersten Künstlerin: Solche Performances mit Ritual, Gesang, esoterisch-spiritueller Unterbauung schätze ich, zumal das Thema der Unterdrückung der Frau ein sehr wichtiges ist.

    Gefällt 2 Personen

  5. Avatar von Ulli Ulli sagt:

    Liebe Gerda, toll, mit welcher Ausdauer du uns mitnimmst und Nähe über den Bildschirm herzustellen- ich brdauer natürlich schon, das Ritual nur so zu sehen, aber gut, es entsteht ein Gefühl dabei, wieviel intensiver muss es mittenmang dabei sein?!
    Die Echobilder habe ich mir lange hin und her und hin angeschaut, eine sehr feine Arbeit und Gegenüberstellung!
    ich sende dir spätabendliche Herzensgrüsse
    Ulli

    Gefällt 2 Personen

    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Liebe Ulli, ich freu mich, dass es irgendwie doch klappt mit dem Mitnehmen. Ich mache diese Aufarbeitung auch für mich selbst. Die Eindrücke des Tages sind zu viele, ich muss sortieren, abwägen, um etwas behalten zu können. Vieles fällt leider sowieso durch die Ritzen des Erinnerns, bevor ich es überhaupt recht betrachten konnte…..

      Gefällt 1 Person

  6. Avatar von Susanne Haun Susanne Haun sagt:

    Danke, Gerda, es ist fast so als seien wir dort. 🙂

    Gefällt 1 Person

  7. Avatar von Maren Wulf Maren Wulf sagt:

    Wie plastisch du die Künstlerin skizziert hast!

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse eine Antwort zu afrikafrau Antwort abbrechen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..