Jeden Tag eine Linie III: ikonographischer Vergleich

Die Kohlezeichnungen von vorgestern möchte ich um zwei weitere ergänzen.

 

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Mir war, als wollten die hoch ragenden Formen sich zu Figuren verdichten. Und plötzlich erinnerte ich mich an ein Bild von Domenicus Theotokopoulos alias El Greco, das ich vor vielen Jahren zu kopieren versuchte. Ich fand die alte Zeichnung – etwas enttäuschend, denn in der Erinnerung schien sie mir doch gelungener zu sein – und suchte auch das Original im internet: Visitatione – Maria besucht Elisabeth. Übrigens war ich einmal dort, in den Bergen Jordaniens, an dem Ort dieser Begegnung.

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Mich hatten diese beiden Figuren, die auf einander zueilen und deren Schicksale sich dramatisch verbinden, fasziniert, und ich hatte versucht, der Dramatik dieser Begegnung in den Linien Ausdruck zu geben.  Um die beiden Bilder besser vergleichen zu können, formte ich heute das Greco-Gemälde per Filter so um, dass die Linienführung deutlicher wird:

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und ich sah, dass die beiden Frauen bei Greco aufeinander zuwachsen und zwischen sich einen Baum erschaffen. Auch im „Röntgenbild“ meiner Zeichnung ist dieser innere Baum zu erkennen, doch gleicht er mehr einem abgehauenen Stumpf. Ihm fehlt das Lebendig-Vegetative, das dem Thema angemessen ist (frühe Schwangerschaft der Maria, Johannes „hüpft vor Freude“ im Bauch der Elisabeth).

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Und was hat das Ganze mit den beiden oberen Kohlezeichnungen zu tun? Eine Gedankenverbindung aus dem tiefen Gedächtnis, aus dem ich meine Formen schöpfe, ohne mir dessen bewusst zu sein. – Die Erinnerung an die Zeichnung stand Pate auch bei einer anderen Zeichnung, die ich im Januar machte. Hier handelt es sich um ein Paar, Mann und Frau, die, sich beäugend und fremd, gegenüber stehen. Verbunden nur auf der Genitalebene will nichts zwischen ihnen wachsen, was einem Baum vergleichbar wäre.

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Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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22 Antworten zu Jeden Tag eine Linie III: ikonographischer Vergleich

  1. ©lz schreibt:

    Sehr fein deine Kohlestrichfreuden / frei und dynamisch / kraftvoll und konzentriert.

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  2. Katrin - musikhai schreibt:

    Immer wieder interessant, wie sehr unser Unbewusstes ins hier und jetzt hinein spielt.

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  3. kunstschaffende schreibt:

    Wenn ich das Foto oben von den beiden Frauen betrachte, dann kommt es mir vor, als wolle die rechte ihre Freundin von etwas abhalten oder bewahren.Deine erste gefilterte Version bestätigt mir auch mein Empfinden.

    Lieben Dank Gerda, bin gespannt was Du uns als nächstes präsentierst!

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    • gkazakou schreibt:

      Elisabeth ist in hohem Alter schwanger geworden – sie wird Mutter von Johannes dem Täufer -, und ihre junge Verwandte Maria besucht sie. Die beiden Frauen begrüßen sich stürmisch. Wenn es dich interessiert, lies doch mal im Lukas-Evangelium nach. Es ist eine sehr schöne Passage. (Niemand will hier jemanden bewahren, denn beide sind voll einverstanden mit dem, was ihnen geschieht).

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      • kunstschaffende schreibt:

        Oh okay, ich habe mit Glauben und Kirchen nichts am Hut. Von daher kenne ich mich mit der Bibel und alles was dazugehört, also Evangelium oder Katholizismus Null, Null aus. Evangelisch getauft bin ich. Kommunion habe ich nach einem 4 stündigem Gespräch mit meinem damaligen Pfarrer verweigert. Den Unterricht habe ich aber bis zum Ende mitgemacht. Mein Weg war ein Anderer.
        Also, bitte verzeih mir diese Bildungslücke!

        😳LG Babsi

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    • gkazakou schreibt:

      Liebe Babsi, das ist ja ganz deine Sache, wie du zu Glaubensfragen stehst. Ich wollte nur den Hintergrund beleuchten, der zu dem Bild von Greco gehört. Ob ein Gefühl der Bedrohung von diesem Bild ausgeht? Es ist durchaus möglich. Lieblich ist es jedenfalls nicht. Diese zwei Frauen, die wie von einem Sturm bewegt zu sein scheinen, sind schon sehr merkwürdig. Wie auch andere Bilder von Greco. Mich faszinieren sie, bewegen mich, lassen mich nicht los.

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      • kunstschaffende schreibt:

        Ich finde sie auch sehr interessant, vielleicht liegen wir ja beide falsch.
        Ich wollte es Dir nur erklären, denn ich betrachte solche Bilder ja immer ohne religiösen Hintergrund. Deine Ausführungen dazu sind trotzdem sehr interessant für mich und lesenswert!

        LG Babsi

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  4. teggytiggs schreibt:

    …Deine oberste Kohlezeichnung wirkt auf mich stabil nach außen hin, bewegt im Inneren, gleich einem Gespräch zwischen verschiedenen Ansichten…die Idee der Entwicklung zu Figuren hin erscheint mir folgerichtig schon bei Betrachtung der obersten Zeichnung…

    …und dann, merkwürdig, ich sah auf dem Bild Greco`s die beiden Frauen am Abgrund stehen…die Verfremdung des Bildes zeigt dann eine schöne Lebendigkeit, lebendige Verbindung, das gefällt mir gut…

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    • gkazakou schreibt:

      die Linien, die durch die Verfremdung eigentlich erst zum Vorschein kommen, sind auch für mich eine große Überraschung gewesen. Mein erster Eindruck ist ähnlich dem deinen gewesen. Und dann kommt plötzlich diese Lebendigkeit zum Vorschein, ganz unvermutet.
      Ich versuche nun herauszufinden, wie ich diese Entdeckung in meinen eigenen Bildern nutzbar machen kann. Insbesondere die Frage beschäftigt mich, wie sich das, was zwischen zwei Menschen geschieht, als eigene Figur offenbart.

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      • teggytiggs schreibt:

        …interessant finde ich, wie ein Bild seine Wirkung – oder einen Teil davon – erst mit einer Verfremdung preisgibt…ich weiß nicht, inwieweit es sich umkehren lässt…also sich bewusst anwenden lässt…

        …ist das, was zwischen zwei Menschen geschieht nicht immer abhängig von diesen?…also wie sollte es sich in Abhängigkeit und als eigene Figur zeigen, kann man es voneinander lösen ohne Verlust?
        …Du wirst es sicherlich ausprobieren…ich finde Deine Versuche, Untersuchungen und Betrachtungen sehr interessant.

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    • gkazakou schreibt:

      Ja, von den beiden Menschen ist abhängig, was zwischen ihnen entsteht. Genau das ist es, was ich zu erfassen suche: welche Gestalt geben die beiden Menschen dem, was zwischen ihnen geschieht? Im Bild von Greco scheint mir, dass da ein großer starker Baum entsteht. In meiner Kopie ist es nur ein trockener Baumstumpf. In einer Zeichnung, die ich heute versuchte (ich dachte an ein mir bekanntes Paar, das Probleme hat) , entstand zwischen den beiden eine Art von Garten, in dem ein Baum mit Früchten wuchs, und ich wollte als Rat den Satz hinzu fügen: wässert euren Garten. Das wäre ein Beispiel.

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  5. Maren Wulf schreibt:

    Deinen Ausführungen heute – den Bild-gewordenen ebenso wie den Erläuterungen – bin ich geradezu atemlos gefolgt, Gerda. Sehr spannend insbesondere die Bäume zwischen den beiden Figuren in Original und Kopie. Die Unterschiede sind tatsächlich enorm.

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  6. Pingback: Linien IV | GERDA KAZAKOU

  7. tikerscherk schreibt:

    Die erste Zeichnung würde ich mir sofort aufhängen. Sofort.
    Sie spricht derart zu mir, dass ich beinahe glauben könnte, Du hättest sie für mich gezeichnet.
    (Ich wage kaum zu fragen, ob ich sie erwerben kann)

    Deine Ausführungen sidn, wie immer, sehr interessant!

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