Sonntags aus dem Archiv: Den Unbehausten

Jeden Sonntag ins Archiv hinabsteigen und schauen, was ich an einem Tag wie diesem in früheren Jahren dachte und tat. Das tat ich auch heute und stieg hinab ins Jahr 2019. Da fand ich ein Gedicht, für Christianes abc-etüden geschrieben. Die geforderten Wörter waren: Unbehausheit, schwermütig, erhaschen.

Es kreist um Rilkes Gedicht „Herbsttag“, an das ich vorgestern erinnerte. Und ich denke, ich kann es hier noch einmal hinsetzen. Denn jetzt, gegen Ende November, beginnen die schweren Tage der Unbehausten.

Den Unbehausten

„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr…“

So murmelte die unbehauste Alte,

sie kannte das Gedicht, ach war das lange her

sie ahnte damals nicht dass es ihr galte.

 

Von Unbehausheit schien sie weit entfernt

Und Schwermut kannten nur die andern

Sie hatte nur den leichten Weg gelernt

Und die Natur, die liebte sie beim Wandern.

 

Sie naschte, was der Wald ihr brachte

Und haschte nach dem Licht, das leise

Durch Blätterdächer fiel und lachte

Und fühlte sich sehr leicht und weise.

 

Doch dann kam alles anders als gedacht

Sie blieb allein in ihrem Hause hocken

Seit ER ihr starb, hat sie nicht mehr gelacht

Und ließ sich selten noch nach draußen locken.

 

Bis dann auch dieses Haus ihr ward genommen

Weil alles Geld  schon längst vertrunken war

Seither ist sie sehr weit herumgekommen

Doch war die Welt nicht mehr so wunderbar.

 

Die Nacht war kalt, der Morgen graut verdrießlich

Die Decke ist vom Grase feucht und schwer

Die Füße, wund vom Laufen schließlich

Sie weigern sich, sie wollen nun nicht mehr.

 

„Schwermütig, ach“, so seufzt die Alte wieder,

„schien mir das Lied, doch ahnt ich damals nicht

dass was sie sagen, diese alten Lieder

sich irgendwann ins eigne Leben flicht.“

 

Sie seufzt sehr tief und reibt sich ihre Augen

Die rot vom Alter und von Kälte sind

Besonders viel die Augen nicht mehr taugen

Doch immerhin sind sie nicht blind.

 

Sie schaut herum, sucht Stock und Tuch zusammen

Und schüttelt welkes Laub vom Haar

Und von dem Mantel und mit klammen

Händen rafft sie, was von der Habe übrig war.

 

Und schaut hinauf zum Himmel, der sich rötet

Im Morgenlichte wehen Wolken hin wie Hände

Im  Walde knackt ein Ast, und eine Amsel flötet

Ach wenn das Morgenlicht doch niemals schwände!

„Flügelhände“

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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10 Responses to Sonntags aus dem Archiv: Den Unbehausten

  1. Zeichnung und Gedicht, beides von Dir, Gerda, nehme ich an, haben mich sehr angesprochen, und ich habe dies gerade mal bei mir angezeigt.

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  2. Guten Morgen,
    danke für dieses wunderschöne Gedicht. Ich bin in meinem Leben einigen „Unbehausten“ begegnet. Wenn Gevatter Tod kommt und den geliebten Partner raubt, ist das sehr traumatisch. Eine Nachbarin beschrieb das so „der Platz neben mir ist leer“. Sie hat sehr am Tod ihres Mannes gelitten. Jetzt ist auch sie gegangen. Hat eine Lücke hinterlassen in meinem Herz.
    Wie dankbar bin ich aber, dass im Herzen noch jemand wohnt, der uns allen immer und jederzeit ein Zuhause gibt.
    🫶🐑

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  3. Ich vergaß: Danke auch für die schönen Bilder. Die Nachbarin und ich teilten eine Diagnose: Rheuma. Rheuma zeigt sich meist an den Händen.
    Aber auch sonst können die Hände eines Menschen mehr über einen Menschen sagen, als viele Worte.
    Und das Zeichnen hilft besser als Pillen oder Therapeuten.

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  4. Hallo Gerda!
    Du steigst ja schon seit geraumer Zeit ins Archiv hinab und förderst so einiges, was Dir bedeutsam erscheint, zutage. Ich habe es Dir heute gleich getan, obwohl ich nicht so gerne nach hinten blicke, Nostalgie bedeutet für mich irgendwie immer Stillstand. Aber heute habe ich mich an meinen eigenen Bildern und Beiträgen aus dem November vor zehn Jahren wirklich erfreut. Hat was. Danke für den „Anstupser“, Liebe Grüße Jürgen

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  5. Es ist so gut, dein Gedicht, liebe.gerda
    Ich mag es sehr und ich möchte so gerne, dass jeder unbehaust wäre. Doch es wird nicht gelingen.
    Zu verzwickt springt das leben mit den menschenkindern um

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