Impulswerkstatt, Zitat: keine Macht zerstückelt geprägte Form…

„Niemand ist gezwungen, der Mensch zu sein, als der er geboren wurde, stattdessen kann man sich zusammensetzen wie ein Puzzle“

Meine erste Reaktion auf dieses Zitat, liebe Myriade: Erzählenderweise kann man sich wohl tatsächlich immer wieder neu zusammensetzen, man kann das „Narrativ“ des eigenen Lebens dem jeweiligen Publikum entsprechend anpassen. Man kann auch sich selbst immer neue Geschichten über sich selbst erzählen  — das ja. Insofern gleicht der Mensch meiner Schnipselkunst, die ja darin besteht, das immer gleiche Material neu zu kombinieren. Dennoch bleibt der lebende Mensch immer der, der er war und ist. Man entwickelt sich, wird dabei aber kein Mosaik, auch wenn es sich oft so anfühlt. Und so setze ich gegen des jungen Pajtim Statovcis Worte Goethes weise „Urworte, orphisch“ :

Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Ich kannte, als ich zwanzig war, einen jungen Mann im gleichen Alter, der nannte sich B* (sein Nachname) von D* (sein Geburtsort). Er war ein sensibler, stiller Zeitgenosse, klug, freundlich und liebevoll habe ich ihn erlebt. Nachts schlief er wenig, vielleicht zwei Stunden, und so war seine Bude eine Anlaufstelle für andere Eulen, wir saßen um die Espressomaschine und redeten oder schwiegen. Warum fällt er mir ein? Weil er mit einer erfundenen Identität, vulgo als „Hochstapler“ lebte.  Er täuschte mit seinem Namen einen hohen Adelstitel vor, log freilich nicht, denn er stammte aus D*, und wenn die Menschen gerne glauben wollten, dass er ein Adliger sei, weil er von und nicht aus D* sagte, so war das ausschließlich ihre Angelegenheit. Warum sollte er sie korrigieren?

Einmal (1961) trampten wir zusammen nach München. Unterwegs, von einer Raststätte aus, telefonierte er mit der „Münchner Festwoche des Balletts“ und bestellte unter Angabe seines Adels-Namens zwei Freikarten für eine Uraufführung. Wir kamen zu spät, die Kasse war schon zu, und so verlangte er, leicht unwillig, den Direktor, der auch erschien und uns, unter Verbeugungen und Entschuldigungen, zwei noch freie, aber nicht nebeneinander liegende Plätze in der 1. Reihe und in der Empore anweisen ließ. Und da saß ich nun in der ersten Reihe einer Ballettpremiere (welche? ich glaube, von Benjamin Britten) zwischen lackierten Damen und Herren, frisiertem und pomadisiertem Nachwuchs in meinem einfachen bunten Kattunrock, etwas zerknautscht und zerzaust, mit nackten Füßen in den Sandalen, ein paar schiefe, auch verwunderte Blicke trafen mich … aber das ist eben das Zeichen echten Adels: der darf die Etikette vernachlässigen, die für den „Bürger“ verbindlich ist.

Später verlor ich den Freund aus den Augen, ich suchte ihn im internet und fand ihn, nun als Autor eines Lexikons der Parapsychologie, in einem zentralamerikanischen Land. Ich weiß nicht, wie oft er sich neu erfunden hat — für die Welt —, er selbst war doch derselbe geblieben, als den ich ihn kannte: still, klug, sensibel und sehr liebenswert. Vielleicht noch ein wenig desillusionierter und trauriger als damals, als ich ihn kannte. Aber das ist nicht mehr als eine Vermutung.

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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7 Responses to Impulswerkstatt, Zitat: keine Macht zerstückelt geprägte Form…

  1. Avatar von Ulli Ulli sagt:

    Wir können mit Identitäten spielen, so, wie du es beschreibst, aber ich glaube auch an einen Kern, der ist, wie er ist.

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  2. Avatar von Myriade Myriade sagt:

    Durch „Umgruppierungen“ und Veränderungen von Schwerpunkten und Blickwinkeln kann schon eine Menge verändert werden. Menschen haben ja viele Facetten und manchmal wird die eine manchmal eine andere betont, ob aber der innerste Kern immer gleich bleibt, finde ich sehr schwer zu beurteilen, vor allem von außen. Jedenfalls ein spannendes Thema und sehr aktuell.

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  3. Avatar von Lopadistory Lopadistory sagt:

    Tolle Geschichte. Ich sehe Dich förmlich sitzen mit den Sandalen

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  4. Avatar von m.mama m.mama sagt:

    Drei Buchstaben „von“ und schon wird aus einem Menschen einer, der etwas zu sagen hat. Schon verrückt. Vor allem die Wirkung und das Getue rund um so etwas. Andererseits erscheint es mir auch seltsam, dass man sich unbedingt damit schmücken möchte. Durch Lüge wichtig zu werden ist genauso verfehlt wie durch einen Titel: Es sollte auf Charakter und Taten ankommen. Genügte er sich selbst nicht oder wollte er nur die anderen zum Narren halten? Interessante Begebenheit aus deinem Leben auf jeden Fall!

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Er genügte sich, glaube ich, durchaus selbst. Er wollte sich auch nie eine besondere Wichtigkeit beimessen, sondern behandelte solche Weltdinge ganz gleichgültig. Der Titel war eine Spielerei, ein Spiegel, den er gegen die Welt richtete. Da mochte sie sich drin beschauen.

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  5. Manchmal wünschte ich mir auch zu erfahren, was aus dem einen und der anderen geworden ist, die meinen Lebensweg kreuzten und dann irgendwie „verloren“ gingen. In seltenen Fällen hilft der Zufall oder wie in deinem Fall das Internet. Letzteres wird vermutlich in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen.

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