Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Dieser Vorspann hat den Aufstieg begleitet, seit ich am 4. Juni die erste Stufe betrat und zum Begriff Glück eine passende literarische Assoziation suchte. Ich fand sie in Goethes frühem Gedicht Willkommen und Abschied. Es endet mit den wunderbaren Worten:
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
Das Glück des Geliebtwerdens und des Liebens steht am Beginn der Treppe, und es soll auch beim Abschied von der Treppe gelten. Dazwischen liegen viele Stufen, die ich jetzt noch einmal hinabschauen möchte – beginnend mit dem nun erstiegenen 9. Treppenabschnitt: von Mut über Weite – Sinn – Respekt – Ehren – Stille – Freiheit – Glauben – Dankbarkeit – Rücksicht – Bewundern … – das war der neunte Abschnitt, der mir viel autobiografischer geriet als die vorangegangenen. Das freut mich, denn es zeigt mir, dass diese Kletterei nicht nur Ablagerungen des abendländischen Bildungskanons und der deutschen Geschichte zum Vorschein, sondern auch mich näher zu mir selbst brachte.
Aufwärts-abwärts? derselbe Weg
so sagte der große Denker Vor genau 8 Jahren, am 24. September 2017, machte ich mir dazu schon einmal Gedanken (hier).
Diese Synchronizität ist faszinierend. Sie gibt mir Gelegenheit, noch einmal die damaligen Gedanken zu lesen und darüber nachzusinnen, wie ich damals, wie heute denke.
Damals schrieb ich: Aufwärts? abwärts? derselbe Weg, so sprach der Weise Heraklit. Und natürlich hat er recht.
Und doch: wie plagen sich die Menschen, weil sie nach oben wollen, obgleich ihr Abstieg ja schon vorgezeichnet ist. Beschwerlich ist der Aufstieg, Stufe um Stufe muss man erklimmen, der Hindernisse gibt es viele, das Atmen wird eng, wer weiß, ob mans schafft. Und wenn man dann oben ist: wie lässt sich der Abstieg ertragen? Er scheint so leicht, er geht sich fast von selbst. Und doch: wie trostlos das Gefühl.
Auf- und Abstieg – eine fesselnde Idee, die Licht verspricht und Schatten wirft.

Aufwärts – abwärts? derselbe Weg.
Der neunte Treppenabschnitt im Rückblick
113 Mut (Franz Kafka, Vor dem Gesetz; Bertold Brecht, Mutter Courage) – 112 Weite (Johann Wolfgang von Goethe, Selige Sehnsucht; Hermann Hesse, Stufen) – 111 Sinn (William Shakespeare, Macbeth; Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften; Thomas Mann, Der Zauberberg) – 110 Respekt (Helen Keller, Anne Sullivan, Samuel Gridley Howe, Fingeralphabet für Taubblinde)- 109 Ehren (Moses, Martin Luther, Das vierte Gebot; Alexander Mitscherlich, Vaterlose Gesellschaft) – 108 Stille (Graf von Schulenburg, Ruhe ist die erste Bürgerpflicht; Joseph Mohr, Stille Nacht, heilige Nacht) – 107 Freiheit (Max von Schenkenberg, Max Kegel, Freiheit die ich meine; Hoffmann von Fallersleben, Lied der Deutschen) – 106 Glauben (Matthäus, Berge versetzen; Martin Luther, Glaubensbekenntnis; Max Weber, Protestantische Ethik; Sigmund Freud, Mann Moses) – 105 Dankbarkeit (Kindergebete; Friedrich Rückert, Die Dankbarkeit ergeht nicht in des Handelns Schranken) – 104 Rücksicht (selbst, Familienausflug) – 103 Bewundern (Hilde Domin, Nicht müde werden)
Der achte Treppenabschnitt im Rückblick
102 Frieden (Werner Herzog, Kaspar Hauser; FJ Strauß, Robert Havemann, Jesus) – 101 Hoffnung (Dante, Julian Assange, selbst) – 100 Wertschätzen (Einstein, Goethe, jeder Augenblick) – 99 Vertrauen (Rilke, selbst) – 98 Heilen (Volkslied; Neues Testament, Raffael; Franz Kafka, der Landarzt) – 97 Besinnung (Richard von Weizsäcker, Rede zum 8. Mai 1945) – 96 Verständnis (Novalis, Heinrich von Ofterdingen; Saint Exupery, Der kleine Prinz) – 95 Einsicht (selbst; Rückert) – 94 Mitleid (Der barmherzige Samariter, Delacroix, Van Gogh)- 93 Beschämen (Robert Musil, Volker Schlöndorff, Törless)
Der siebte Treppenabschnitt im Rückblick
92 Schuld (Vaterunser, Schuldenerlass; Karl Stamm, Brudermord) – 91 Tränen (Paul Verlaine, il pleut) – 90 Rache (Conrad Ferdinand Meyer, Füße im Feuer) – 89 Leiden (Hugo von Hofmannsthal, Manche freilich…) – 88 Wahn (Friedrich Schiller, Wahn und Wirklichkeit) – 87 Schweigen (Johann Wolfgang von Goethe, Wandrers Nachtlied; Georg Trakl, Verklärter Herbst) – 86 Missbrauch (Immanuel Kant, Gebrauch der Geschlechtsorgane) – 85 Verfolgung (Mascha Kaleko, Überfahrt) – 84 Schrecken (Franz Münterfering, Heuschrecken) – 83 Terror (Maximilien de Robespierre, Joseph-Ignaz Guilleton, La Terreur)
Der sechste Treppenabschnitt im Rückblick:
82 Würde (Friedrich Schiller, Bertold Brecht et al, Verfassungen) – 81 standhaft (Friedrich Schiller, die Glocke, Bürgertum) – 80 Treue (Carl Orff, Die Kluge) – 79 Tiefe (Friedrich Nietzsche, Gustav Mahler, O Mensch gib Acht!) – 78 göttlich (Johann Wolfgang von Goethe, Edel sei der Mensch) – 77 Güte (Bibel, Bertold Brecht, Ein guter Mensch sein…) – 76 Klärung (Ingeborg Bachmann, Erklär mir, Liebe) – 75 überwinden (Rainer Maria Rilke, Der Schauende) – 74 beistehen (Paulus, Galater, einer trage des anderen Last) – 73 Ausdauer (Albert Einstein, Ausdauer und wegwerfen) –
Der fünfte Treppenabschnitt im Rückblick:
71 verlassen (Eichendorff, „Das zerbrochene Ringlein“) – 70 Enttäuschung (Luise Büchner, „Höchstes Leid“) – 69 Verzweiflung (Kierkegaard, „Krankheit zum Tode“, Nietzsche) – 68 Weinen (Goethe, „Wer nie sein Brot mit Tränen aß“) – 67 Hass (Ricarda Huch, „Mein Herz, mein Löwe“, Heinrich Heine, „Diesseits und jenseits des Rheins“) – 66 Kurzschluss (Heinz Ehrhardt, „Kurz vor Schluss“, Bertold Brecht „Matrosentango“ aus „Happy End“) – 65 Zweifel (Aristoteles, Buridans Esel, Enzensberger, „Entschlusslosigkeit“) – 64 Panik (Carl-Christian Elze, „PanikParadies“, Pandemie) – 63 Liebeskummer (Friedrich Nietzsche, „theokritischer Ziegenhirt“) – 62 Kränkung (Dieter Bonhoeffer, „Wer bin ich?“) – 61 Eifersucht (Leo Tolstoi „Kreutzersonate“, William Shakespeare „Othello“)
Der vierte Treppenabschnitt im Rückblick:
60 lieben (Paulus, Petros Gaitanos, Korinther, „Hohelied der Liebe“) – 59 zusammenkommen (William Shakespeare, Theodor Fontane, Victor Hugo „Zufall oder Fügung?“) – 58 verführen (Don Juan, Bertold Brecht) – 57 schmachten (Matthias Claudius, „Regenlied“) – 56 verlieben (Joseph von Eichendorff) – 55 Zuneigung (Joachim Ringelnatz, „Ich hab dich so lieb“) – 54 tanzen (Kinderlied, „Wanze“) – 53 Handkuss (Rotter, Erwin, „Ich küsse Ihre Hand, Madame“) – 52 Verehrer (Homer „Penelope“, Stefan George „Jean Paul“) – 51 überschwenglich (Grimms Märchen vom süßen Brei, Rainer Maria Rilke, Frank Wedekind) – 50 kribbeln (Theodor Fontane, „Natur“) – 49 Leidenschaft (Marie von Ebner-Eschenbach, „Uhren“ , Stefan Zweig, Lasker-Schüler) – 48 Anziehung (Annette von Droste-Hülshoff, Mann-Frau, „Magnet“) – 47 Aufblühen (Anais Nin, weibliche Emanzipation) – 46 erlauben (Verschnaufpause)
Der dritte Treppenabschnitt im Rückblick
45 Achtung (selbst, „nun trommeln sie wieder“) – 44 Besonnenheit (Ludwig Uhland, „Volksvertreter“) – 43 Lügen (Carlo Collodi, „Pinocchio“) – 42 Warnung (Heinrich Heine, „Zensur“) – 41 wirr (Christian Morgenstern, „Hausschnecke“) – 40 Trauma („Philoktet“, Valeria Petkova) – 39 betrübt (J.W. von Goethe, Ludwig van Bethoven, Verliebtsein) – 38 Beherrschung (Paul Fleming, „Selbstbeherrschung“) – 37 Beleidigt sein (Niccolò Macchiavelli, „Ratschlag an Herrscher“) – 36 Vorwurf (Wilhelm Busch „ohne Schuld“) – 35 Neid (Friedrich Schiller, „Polykrates“) – 34 Wut (Homer, Poseidon, Odysseus) – 33 Beschimpfen (Arthur Schopenhauer, „Kunst des Beschimpfens“) – 32 Drohung (J. W. von Goethe, „Erlkönig“) – 31 bösartig (George W. Bush jr, „Achse des Bösen“)
Der zweite Treppenabschnitt im Rückblick
30 Aggressiv (F.T.Marinetti, „Futuristisches Manifest“) – 29 Auslöser/Anlass (Helmut Heißenbüttel, Rede zum Büchner-Preis) – 28 friedlich (Bertold Brecht, „Friedenslied“) – 27 beruhigen (Natur, erleben) – 26 Freude (Friedrich Schiller, „An die Freude“) – 25 Verbot (Anatole France, Gleichheit vorm Gesetz) – 24 wappnen (Martin Luther, „Ein feste Burg“) – 23 zur-Wehr-Setzen (Georg Herwegh, Vormärz „Wiegenlied“) – 22 Zorn (Roman Herzog „Aguirre“, Georg Trakl „Grodeck“) – 21 Begeisterung (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Definition) – 20 Bruder (Karl König, „Bruder Tier“) – 19 Nähe (Christian Morgenstern, „Näherin“) – 18 Ehrlichkeit (Joachim Ringelnatz „Mächtig ist die Ehrlichkeit“) – 17 Lachen (Günter Grass „Hier wird nicht mehr gelacht“) – 16 Sprechen (Friedrich Schiller, „Die Bürgschaft“) –
Der erste Treppenabschnitt im Rückblick
15 Vergeben (Ricarda Huch „Mein Herz, mein Löwe“, Leo Tolstoi „Auferstehung“, Matthäus-Evangelium) – 14 Gewissen (Franz Joseph Degenhardt, „Befragung eines Kriegsdienstverweigerers“) – 13 beschützen (Hermann Hesse, „Stufen“, Friedrich Hölderlin „Hyperions Schicksalslied“) – 12 Jauchzen (Johann Sebastian Bach, „Weihnachtsoratorium“) – 11 Ehre (Johann Wolfgang von Goethe, Valentin im „Faust“) – 10 Familie (David Cooper, „Tod der Familie“) – 9 Erschrecken (Lukas-Evangelium „Verkündigung“) – 8 Angst (Mascha Kaléko, „Jage deine Ängste fort“) – 7 Unschuld (Friedrich Nietzsche „Im Süden“) – 6 Heimat (Theodor Fontane „Graf Douglas“) – 5 Liebkosen (Aischilos „Gefesselter Prometheus“, Selbst „Schwanenwege“ // Leo Tolstoi „Anna Karenina“) – 4 Wärmen (Wolfgang Borchert, „Die Küchenuhr“) – 3 Mutter (Kurt Tucholsky „Mutters Hände“) – 2 Streicheln (John Steinbeck „Of Mice and Men“) – 1 Glück (Johann Wolfgang von Goethe „Willkommen und Abschied“).

Willkommen und Abschied
Im Gebirge oben angekommen, fühlen wir uns froh und frei. Jetzt kann man ja nur noch abfliegen… oder noch einmal von oben herunterschauen,
bevor man langsam und mühsam wieder absteigt.
Dabei kann man manches ja noch einmal neu – und aus anderem Blickwinkel heraus
und mit neu hinzugewonnenen Lehenserfahrungen – neu betrachten.
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Wenseltreppen stieg ich in Kirchtürmen schon manchmal hoch. Von oben herabzuschauen – gleich neben den Glocken – ist etwas ganz besonders Schönes.
Hinterher muß man dann auch wieder hinabsteigen. Das ist dann nicht ganz so schön.
Aber es hat auch einen Sinn; denn nun können wir endlich wirklich begreifen, das wir hier auf der Erde als Mensch unter Mitmenschen leben.
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Wendeltreppen. Dein Photo von einer Wendeltreppe hinabgeschaut, mit all ihren Schatten, finde ich sehr schön gelungen.
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Sehr, sehr eindrucksvoll!
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Herzlichen Dank, Myriade!
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Tolle Leistung, liebe Gerda. Und sehr inspirierend, finde ich! Für mich ein Quell, aus dem ich wohl ab und an wieder schöpfen werde.
Liebe Grüße
Jürgen
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Deine Antwort freut und ehrt mich, lieber Jürgen. Vielen Dank für den Zuspruch!
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