112 Stufen, 108: Stille (Graf von Schulenburg, Joseph Mohr, Stille Nacht)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Kaum konnte ich das Wort auf der 108. Stufe des Holsteiner Treppe entziffern. Es ist mit Hellgrün auf Türkis geschrieben, es tönt nicht laut, es lispelt und flüstert nur leise.

Stille also.

Über allen Gipfeln ist Ruh ….

„Wandrers Nachtlied“ von Johann Wolfgang von Goethe fällt mir zuerst ein – aber das habe ich schon auf der 87. Stufe unter „Schweigen“ erinnert. Schweigen, Ruhe und Stille sind wohl ähnlich, aber nicht dasselbe.

„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ ist der nächste Spruch, der mir einfällt. Aber woher stammt er? Da muss ich recherchieren: Die, die diesen Satz auf roten Flugblättern zuerst lasen, waren die Bürger Berlins des Jahres 1806, im Oktober.

 

„Der König hat eine Bataille verloren. Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht.

Veranlasst hatte die Informationskampagne der damalige preußische Minister Friedrich Wilhelm Graf von der Schulenburg, der damit den Untertanen die doppelte Niederlage bei Jena und Auerstedt gegen Napoleon kundtat. Die Toten wurden begraben oder auch nicht, der Preußische Hof verabschiedete sich nach Ostpreußen, die deutschen Lande gerieten unter französische Besatzung, zumal auch die Österreicher zuvor in der Schlacht von Austerlitz die Kontrolle über große Gebiete verloren hatten. 

Aber Halt! Es geht auf dieser Stufe ja gar nicht um das Wort „Ruhe“, sondern um „Stille“. Und das ist doch nicht dasselbe, oder?

„Ruhe!“ erinnert mich an einen Ruf, um den Lärm im Inneren und Äußeren zu dämpfen. In „Ruhe“ klingt die Unruhe mit. Ruhe vor dem Sturm…. Bei „Stille“ halte ich lauschend mein Ohr ins All.  Und was klingt mir da leise entgegen? Das auch bei uns zu Hause mit Inbrunst gesungene Weihnachtslied:

Stille Nacht, heilige Nacht

Originalmelodie

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mein erstes Weihnachten, 24.12.1942 (ich bin die im Korb). Am Tag zuvor fiel unser Vater in Stalingrad.

Entstanden ist das Lied zehn Jahre nach dem obigen Satz des ruhegebietenden preußischen Ministers: 1816. Geschrieben hat es der Hilfspfarrer Joseph Mohr (1792–1848) von Mariapfarr im Salzburger Land. Die Melodie stammt vom armen Dorfschullehrer und Organisten Conrad Franz Xaver Gruber (1787–1863). Erstmals sangen die beiden (Tenor und Bariton) das Lied am Heiligen Abend 1818 in der St. Nikolaus-Kirche in Oberndorf bei Salzburg. Es gefiel und gelangte über einen Orgelbauer in die Gemeinde Fügen, wo die dortigen Sänger im Oktober 1822 Gelegenheit hatten, dem Kaiser Franz I und dem Zaren Alexander I vorzusingen. Die befanden sich auf der Durchreise zum  „letzten Monarchenkongress“ der Heiligen Allianz in Verona, wo man um Territorien und Grenzen schacherte, mal wieder ohne die Menschen zu fragen, für welchen Herrn sie in Zukunft bluten wollten  … Das war im Jahr nach Napoleons Tod auf St. Helena….

Zeitgenössische Karikatur des Kongresses von Verona (1822)

Mit einer Tiroler Händlerfamilie kam das Lied zu Weihnachten 1831 nach Leipzig, wo die singende Kinderschar Strasser zum Success wurde. Es zirkulierten bald schon Flugblätter mit dem Text und 1841 dann auch im ordentlichen Druck.

15.12. (3. Advent)

Seither wurde das Lied in 320 Sprachen übersetzt. Beim „Weihnachtsfrieden“ 1914 sangen es die Soldaten der feindlichen Heere auf Deutsch und Englisch.  Mit Bing Crosbey wurde es 1934 zum Weltschlager. Die Nazis machten einen Versuch, es auf den Führer umzudichten, aber das gefiel den Deutschen nicht. Weihnachten 1941 sangen es Rooseveld und Churchill gemeinsam im Weißen Haus – und sicher sangen es auch die Soldaten in den Pausen blutiger Schlachten an der Ostfront, die Bewohner der bombardierten Städte, die Bewacher und vielleicht auch die Insassen der KZs und jeder und jede in allen Sprachen der Welt.

Im März 2011 wurde das Lied zum Immateriellen Kulturerbe Österreichs.

(Quelle der Angaben: Wikipedia).

Der Text:

Stille Nacht, heilige Nacht
Stille Nacht! Heilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
nur das traute hoch heilige Paar.
„Holder Knabe im lockigen Haar,
schlaf in himmlischer Ruh‘,
schlaf in himmlischer Ruh‘!“

Stille Nacht! Heilige Nacht!
Gottes Sohn, o wie lacht
lieb‘ aus deinem göttlichen Mund,
da uns schlägt die rettende Stund‘:
Jesus in deiner Geburt.
Jesus in deiner Geburt.

Stille Nacht! Heilige Nacht!
Die der Welt Heil gebracht,
aus des Himmels goldenen Höh’n
uns der Gnade Fülle lässt sehn:
Jesum in Menschengestalt.
Jesum in Menschengestalt.

Stille Nacht! Heilige Nacht!
Wo sich heut‘ alle Macht
väterlicher Liebe ergoss,
und als Bruder huldvoll umschloss
Jesus die Völker der Welt.
Jesus die Völker der Welt.

Stille Nacht! Heilige Nacht!
Lange schon uns bedacht,
als der Herr, vom Grimme befreit,
in der Väter urgrauer Zeit
aller Welt Schonung verhieß,
aller Welt Schonung verhieß.

Stille Nacht, heilige Nacht,
Hirten erst kundgemacht!
durch der Engel Halleluja
tönt es laut von Ferne und Nah:
Jesus, der Retter ist da!
Jesus, der Retter ist da!

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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5 Responses to 112 Stufen, 108: Stille (Graf von Schulenburg, Joseph Mohr, Stille Nacht)

  1. Stille, eine friedvolle Stille ist gut. gehört zu den besten immateriellen Dingen, die man erwerben kann. Gut, andauernde Stille – Beethoven wird nicht glücklich gewesen sein über seine Taubheit. Auch wenn er übende Musikstudenten nicht mehr hören mußte.
    Eine Stille, die aus einer erzwungenen Ruhe erwächst, ist dagegen nicht gut. Und was gehen uns die Könige und ihre Schlachten an! Sie sollen sie doch selbst ausfechten oder endlich Schach spielen lernen. Oder bei ungelösten Rätselfragen mitmachen. So die bekannte theologische Frage, geradezu ein gordischer Knoten der christlichen Theologie, denn was ergäbe sich aus seinr Lösung: Wer ist Owi?
    Jener unbekannte, der im Liedtext erstmals dokumentiert wird, der offenbar bei der Geburt Mitwirkender war und nachdem diese gut überstanden war herzlich lachte. So steht es da. Keines der anerkannten Evangelien überliefert die rührende und fröhliche Szene, aber Mohr & Gruber haben wohl bei ihren vertieften Studien derlei Unbekanntes hervorgeholt.
    Und schon geht die Diskussion los, vorbei ist es mit der Stille! Manche leugnen den Owi ganz, andere feiern ihn, noch andere geben dies und das zu bedenken…

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  2. Gerda, gelesen habe ich es noch nicht. Aber die Erinnerungen waren ernst, feierlich und schon. Es hatte etwas von „Himmlischem Frieden“ und „trautem Heim“ und auch von der Krippe und dem JESUSkinde und dem Stern 🌟

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  3. Das Photo war mir im Moment wichtiger.

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  4. Die Ruhe vor dem Sturm und nach dem Sturm…
    Drohende Stille und stilles Aufatmen danach…

    Wohltuende Ruhe oder auch eine kurze Ruhezeit, bevor es weitergehen kann, wohin auch immer…

    Ruhe im Volk bedeutete oft, den Atem anhalten und hoffen, daß der nächste Schrecken noch lange auf sich warten lassen würde…

    Stille Nacht – heilige Nacht

    wer kennt es nicht, wer kann es ncht wenigstens mitsummen, liebe Gerda!

    Dein altes Foto ist so wundervoll, läßt so viele Gedanken frei

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