112 Stufen, 95: Einsicht (selbst, Friedrich Rückert)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Diese Stufe hätte ich gestern nehmen sollen, aber da war ich anderweitig unterwegs. Ich will aber im Rhythmus des Datums bleiben und jeden Tag eine Stufe erklimmen. Daher dachte ich, über die „Einsicht“ mit drei schnell gereimten Stoßseufzern hinwegzuhüpfen und danach die nächste Stufe zu nehmen.

– 1 –

Einsichten haben höchst selten Bestand

Gold sind sie sehr selten, gewöhnlich nur Tand. 

 

– 2 –

Schau ich nach Draußen, so find ich mich klug

Blick ich nach Innen, wars nicht klug genug.

 

– 3 –

Hilf mir, o Einsicht, dass ich nach dir handle

Und nicht wie zuvor schon im Lichtlosen wandle!

 

Doch Halt! Friedrich Rückert (1788 – 1866) hatte auch eine Einsicht zur Einsicht! Die kann ich doch nicht einfach übergehen!

Friedrich Rückert

Die gewonnene Einsicht

Was ich ahnte, was ich träumte,
war so viel, doch nicht genug,
bis ich weg die Zweifel räumte
und die Dunkelheit zerschlug.

Ist nun mehr die vielgepries’ne
Einsicht als der Dämmerflor ?
Minder scheint das Klarbewies’ne,
als mir dunkel schwebte vor.

Reizen mag nur als unendlich,
dessen Ziel du nicht gesehn;
und was dir erst ward verständlich,
ist nicht wert mehr zu verstehn.

Wer war dieser Mann, der so viel suchte und so wenig fand? Da Friedrich Rückert – abgesehen von Gustav Mahlers Kindertotenliedern und seinen Fünf Rückert-Lieder – weitgehend der Welt abhanden gekommen ist, ein kurzer Blick auf diesen genialen Mann: Rückert war, außer dass er ununterbrochen dichtete, forschte und lehrte, ein Sprachgenie! Mit 14 begann er, die Odyssee von Homer vom Griechischen ins Deutsche zu übersetzen, im Laufe des Lebens wurden es 44 Sprachen. Wikipedia führt sie alle auf:

  • Indogermanische Sprachen, die in Europa entstanden: Albanisch, Altkirchenslawisch, Englisch, Französisch, Gotisch, Griechisch, Italienisch, Latein, Lettisch, Litauisch, Neugriechisch, Portugiesisch, Russisch, Schwedisch, Spanisch
  • Indogermanische Sprachen in Asien: Afghanisch, Armenisch, Avestisch, Hindustani, Kurdisch, Persisch, Pali, Prakrit, Sanskrit
  • Semitische Sprachen: Arabisch, Altäthiopisch, Biblisch-Aramäisch, Hebräisch, Maltesisch, Samaritanisch, Syrisch
  • Turksprachen: Azeri, Tschagataisch, Türkisch
  • Finno-ugrische Sprachen: Estnisch, Finnisch
  • Dravidische Sprachen: Kannada, Malayalam, Tamil, Telugu
  • Austronesische Sprachen: Hawaiisch, Malaiisch
  • Weitere Sprachen: Berberisch, Koptisch

Insbesondere seine Übersetzungen von Teilen des Koran, des arabischen Dichters Abu Tammam Habib ibn Aus (788-845) und des persischen Dichters und Mystikers Hafis (1315/1325 – 1390) machten diese in Deutschland damals noch weitgehend unbekannten Texte zugänglich. Außerdem schrieb er, wie schon gesagt, ununterbrochen Gedichte, darunter ein Liedertagebuch mit 1000 autobiografisch bezogenen Gedichten. Den Tod von zwei seiner insgesamt zehn Kinder beklagte er in den von Gustav Mahler vertonten herzzerreißenden „Kindertotenliedern“, durch die mir Rückert vertraut wurde.  Denn die Schallplatte mit diesen Liedern war die zweite, die ich erwarb, noch bevor ich einen Plattenspieler kaufen konnte. (Die erste waren die Cello-Suiten von Bach, gespielt von Pablo Casals (1876-1973), die ich 1961 erstmals bei einem Freund hörte). Erinnerungen….

 

 

 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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4 Responses to 112 Stufen, 95: Einsicht (selbst, Friedrich Rückert)

  1. Unglaublich, was Friedrich Rückert in seinem Leben leistete! Und Du hast Dich intensiv mit ihm beschäftigt …..🙏♥️

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  2. Was er über die „Einsicht“ dichtete, …🦋❄️✨🌊🌨️💛🌹💕, ist wohl wahr, weil man es nicht greifen und fassen und nicht beweisen kann.
    Jedenfalls kann man die lebendige Wahrheit nicht „dingfest“ machen.
    Aber im steten Wandel zeigt sich sich ja doch, und wer sich bewegt, kommt auch weiter….

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  3. Einsicht FEHLT an so vielen Ecken.

    Wäre sie doch nur den kriegeführenden Mächten gegeben, liebe gerda

    Einsicht, dass keine Waffe nur friedlich genutzt wird.. sie fehlt komplett…

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