Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Schon wieder Goethe? Ja. Die gestrige „Güte“-Stufe führt folgerichtig zum „Göttlichen“, wie Goethe es sah:
Edel sei der Mensch, hülfreich und gut
Dies forderte Goethe in jenem frühen Gedicht, das er mit „Das Göttliche“ überschrieb und das seither so manches Poesiealbum ziert. Darin macht er den Versuch, den Pantheismus des Spinoza, den er für sich adaptierte, in Worte zu fassen.
Warum soll der Mensch „edel, hülfreich und gut“ sein? Weil „das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen„.
Wörtlich genommen, ist diese Begründung kühn, denn soweit ich die Menschheit kenne, ist sie höchst selten oder, wie ich gestern ausführte, überhaupt nie wirklich „gut“. Goethe wird das nicht anders gesehen haben. Daher wohl setzt er die behauptete Exzeptionalität des Menschen in den Konjunktiv der Forderung: Er sei! Er soll sein!
Und warum, bitte schön, sollen wir gut und edel sein? Weil wir „göttliche Wesen“ erahnen, und diese Ahnung ist wie ein Aufruf, ihnen zu gleichen.
Das Streben nach einem Höheren, dem wir gleichen möchten, ohne es doch zu kennen, ist also das „Göttliche“ im Menschen. Wir übersetzen uns dieses Streben in den Satz: „Sei edel, hilfreich und gut“.
Die Natur ist gleichgültig gegenüber Gut und Böse, sie ist den eisernen Gesetzen der Notwendigkeit unterworfen. Nur der Mensch ist ein moralisches Wesen, da er einen freien Willen und Urteilskraft hat: Er „vermag das Unmögliche: Er unterscheidet, wählet und richtet.“ Und genau das täten auch „die Unsterblichen, als wären sie Menschen“, sie tun das „im Großen, was der Beste (unter den Menschen) im Kleinen tut oder möchte“.
Diese Verschränkung zwischen Erahnen eines Höheren & Nachahmen des Erahnten ist etwas anderes als pure Projektion. Es ist ein selbsterzieherischer Prozess der Menschheit, in dessen Verlauf der Mensch die angenommenen Tugenden der Unsterblichen immer mehr in sich entwickelt. Vergleichen ließe sich das vielleicht mit der Arbeit des Künstlers, dem ein Bild „vorschwebt“ und der sich nun bemüht, dies nur Erahnte real in die Welt zu setzen. Ebenso vergöttlicht der Mensch, dem eine von guten Göttern gewollte Welt vorschwebt, allmählich auch in der Wirklichkeit diese Welt. Das, so Goethe, sei der Menschheitsauftrag.
Der ganze Text lautet:
Johann Wolfgang von Goethe
Das Göttliche
Edel sei der Mensch,
Hülfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.
Heil den unbekannten
Höhern Wesen,
Die wir ahnen!
Ihnen gleiche der Mensch!
Sein Beispiel lehr’ uns
Jene glauben.
Denn unfühlend
Ist die Natur:
Es leuchtet die Sonne
Über Bös’ und Gute,
Und dem Verbrecher
Glänzen, wie dem Besten
Der Mond und die Sterne.
Wind und Ströme,
Donner und Hagel
Rauschen ihren Weg
Und ergreifen
Vorüber eilend
Einen um den andern.
Auch so das Glück
Tappt unter die Menge,
Faßt bald des Knaben
Lockige Unschuld,
Bald auch den kahlen
Schuldigen Scheitel.
Nach ewigen, ehrnen,
Großen Gesetzen
Müssen wir alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden.
Nur allein der Mensch
Vermag das Unmögliche:
Er unterscheidet,
Wählet und richtet;
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen.
Er allein darf
Den Guten lohnen,
Den Bösen strafen,
Heilen und retten,
Alles Irrende, Schweifende
Nützlich verbinden.
Und wir verehren
Die Unsterblichen,
Als wären sie Menschen,
Täten im Großen,
Was der Beste im Kleinen
Tut oder möchte.
Der edle Mensch
Sei hülfreich und gut!
Unermüdet schaff’ er
Das Nützliche, Rechte,
Sei uns ein Vorbild
Jener geahneten Wesen!
Eine Nachbemerkung: Heutige Leser dieses Gedichts werden sich vermutlich an der Frage festbeißen, ob der Mensch anders als das Naturreich sei, und fragen: ist es so? ist es nicht so? Darum aber geht es gar nicht. Es geht darum anzuerkennen, dass wir Menschen die Erde entsprechend unseren moralischen Standards, Einsichten und Urteilen umgestalten in Richtung Paradies oder Hölle, je nachdem. Nehmen wir die erahnten odergeglaubten „göttlichen Wesen“ uns zum Vorbild, dann arbeiten wir in die Richtung der Vergöttlichung der Erde und des Menschen.
Es versteht sich, denke ich, von selbst, dass mit Vergöttlichung des Menschen im Sinne Goethes das genaue Gegenteil von „homo deus“ gemeint ist, wie er Yuval Noah Harari vorschwebt.
(Die Legebilder sind mit Marie Mandarins weißen Schnipseln gemacht, ein kleiner Besucher hat sie eingefärbt.)


Deine Pinguine schauen staunend zu Deinen fliegenden Schwänen auf.
Ob sie sich wohl daran erinnern, daß sie auch einmal fliegen konnten, diese Fähigkeit aber leider mangels Übung verlernten?
Und so sind die Perspektiven nun etwas unterschiedlich.
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Vielleicht erträumen sie sich ein Dasein als Schwan, und, geleitet von diesem Traum, erlernen sie das Fliegen ….
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Vielleicht?
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Goethes Gedicht lese ich, glaube ich, jetzt zum erstenmal bei Dir bis zum Ende.
Vom Ende her, von der letzten Strophe aus, erschließt sich mir der Inhalt in seiner gemeinten wesentlichen Aussage ganz neu.
Ich finde, man sollte nicht zu früh „Weisheiten“ verkünden, sondern erst einmal „in die Stille gehen“.
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Das stimmt. Zu Ende lesen – und erst dann urteilen, ist eine hohe Kunst.
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Ja, lieber etwas länger warten mit dem Urteilen als zu kurz.
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Es tut mir leid, irgendetwas mußte ich jetzt schreiben. Und meine „Zeit der Stille“ war noch zu kurz.
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Dein kleiner Besucher hat wunderschön eingefärbt, Gerda 🙂
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