112 Stufen, 74: Beistehen (Paulus, an die Galater*)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

„Beistehen“ ist ein lebenspraktisches Wort und gehört zum alltäglichen Gebrauch vermutlich aller Kulturen. Sicher gibt es auch etliche Bücher, die sich damit befassen, aber mir fällt nun grad nichts ein. Es ist freilich auch ein christliches Gebot. Paulus ermahnte die Gemeinde der Galater*:

„Ἀλλήλων τὰ βάρη βαστάζετε, καὶ οὕτως ἀναπληρώσετε τὸν νόμον τοῦ Χριστοῦ.“

Und das bedeutet wörtlich:

„Einer trage die Lasten des anderen, und so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“

Wenn man den Kontext hinzunimmt, verschiebt sich die Bedeutung ein wenig, denn bei „Lasten“ geht es um „Verfehlungen“ der Christen, die aus Furcht feige Kompromisse machen. Wenn also jemand schwach wird und sich furchtsam an Verhältnisse anpasst, denen er innerlich widerspricht, so soll einer den anderen unterstützen, und besonders die geistlichen Führer sollen mit Geduld und Sanftmut den Wankenden unter die Arme greifen.**

Was mit dem Satz keinesfalls gemeint ist, ist, dass einer dem anderen die Lasten abnehmen und sich selbst damit beschweren soll. Es geht vielmehr darum, den Strauchelnden nicht zu verurteilen, sondern ihn zu stärken, damit er die Kraft findet, sich trotz Anfeindungen zu seinen Überzeugungen zu bekennen.

Als allgemeine Devise lässt sich der Satz als „Hilfe zur Selbsthilfe“ auslegen. Helfer laufen oft Gefahr, aus dem Helfen für sich selbst Kraft zu ziehen, die dem Geholfenen dann fehlt. Langfristig kann das verheerend sein – für beide Seiten. Es ist ein schmaler Grat zwischen echtem Beistand, der dem anderen hilft, wieder auf die Beine zu kommen, und einer Hilfe, die den Hilflosen schwach und entmündigt hält.

Die Krücke schultern: gelungene Hilfe zur Selbsthilfe, Legebild


 

*Anmerkung: Galatien war eine Region im zentralen Hochland Kleinasiens, die von den Nachfahren keltischer Söldner (Galater=Gallier) besiedelt wurde. Die Söldner,  20 000 an der Zahl, gehörten zu den Horden, die zu Beginn des 3. vorchristlichen Jahrhunderts Griechenland heimsuchten und Delphi plünderten. 278 v. Chr. warb sie König Nikomedes I von Bithynien an, damit sie seinen Bruder in Schach hielten, was sie erfolgreich taten. Nach ihrer Entlassung aus dem Dienst machten sie sich ans Plündern, verwüsteten die Tempel von Didyma und Milet und wüteten in Phrygien. Der Alexander-Nachfolger König Antiochos I besiegte sie mithilfe von Kriegselefanten. Er wies ihnen Siedlungsräume im zentralen Hochland zu und erhob, um sie zu befrieden, sogar eine Keltensteuer. Doch bis in die römische Kaiserzeit kam es immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die schließlich Rom für sich entscheiden konnte, 40 000 Sklaven wegschleppte und um 25 v.Chr. die Provinz Galatia bildete, mit der Hauptstadt Ankyra (heute: Ankara).

Römische Provinz Galatia, Quelle: Wikipedia

**Anmerkung: Paulus schrieb den Brief zwischen 55 und 57 n. Chr. nicht an eine bestimmte Gemeinde, sondern als Rundbrief  „an die Galater“, die hellenisierte (griechisch-sprachige) Heidenchristen, also keine Juden waren und sich nicht an die Tora-Gesetze hielten.

Die Juden-Christen mit Sitz in Jerusalem fanden die Heidenmission durch Paulus äußerst problematisch. Sie versuchten durch eigene Missionare die neuen Christen dazu zu bewegen, sich beschneiden zu lassen und die Toragebote einzuhalten. Paulus widersetzte sich dieser seiner Überzeugung nach falschen Auslegung des Christentums und ermutigte die Neuchristen, sich der Judaisierung zu widersetzen. Das also ist der Kontext des Satzes:

Einer trage des anderen Last.

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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