112 Stufen, 61 Eifersucht (Tolstoi, Shakespeare)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

 

Ach und weh! Kaum habe ich die Stufe der „Liebe“ erklommen, muss ich schon weiter und das Lied der „Eifersucht“ singen! Da fallen mir sogleich zwei Texte ein: den einen, Die Kreutzersonate (1889), las ich erst kürzlich, er ist von Tolstoi. Den anderen kenne ich seit meiner frühen Jugend, als ich Shakespeares Dramen verschlang: Othello – der Mohn von Venedig (1604).  Der Grund für die Eifersucht könnte nicht unterschiedlicher sein, doch gibt es auch eine Ähnlichkeit: die Frau wird Opfer einer Intrige.

Der Ich-Erzähler der „Kreutzersonate“ ist ein komplizierter psychologischer Fall: er hasst sich selbst, weil er seine Frau sexuell begehrt. Frauen sexuell zu begehren, bedeutet für ihn, sich selbst zu beschmutzen. Und Eifersucht ist ein schmähliches Gefühl, das er würdelos findet. Also schmiedet er eine Intrige, die ihm den Vorwand bietet,  sich von der ihn quälenden Geilheit und Eifersucht zu befreien, indem er seine Frau tötet.

Und wer ist schuld an seinen Qualen? Ja, lach nur!

„Ja, so wurden also diese englischen Taillen, diese Locken und Tornüren für mich sozusagen zu Fallen. Mich zu fangen, war übrigens leicht. weil ich unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen war, bei denen die verliebten Gefühle wie Gurken im Warmhause aufschießen. Unsere aufreizende, überreichliche Kost bei völliger Enthaltung von körperlicher Arbeit ist ja schließlich nichts anderes als eine systematische Aufreizung unserer Sinnlichkeit.“ 

Kurzum: Schuld daran, dass er zum Mörder an seiner Frau wird, ist, dass er sie begehrt, und er begehrte sie, weil sie eine „englische Taille“ trug. Schon in der Hochzeitsnacht erkennt er seinen Irrtum, was ihn aber nicht hindert, ihr ein Kind nach dem andern zu machen und jeden ihrer Schritte zu überwachen. Schließlich geht es um seine „Ehre“!

Sexualität zum Zwecke der Fortpflanzung ist erlaubt. Verhütungsmethoden sind von Übel, denn dadurch wird die unnatürliche Dauererregung des sexuellen Triebs gefüttert. Der geistige Mensch ekelt sich vor sich selbst und bringt schließlich die Erregerin seiner Geilheit um. Seine Gerichtsstrafe hat er abgesessen (sie war gering, weil er aus „verletzter Ehre“ gehandelt hat). Nun ist er frei!

Othello ist ein Krieger, sehr männlich-stolz, vertrauensvoll und ehrbewusst, und er ist schwarz. Schwer genug hatte er es, sich trotz seiner Hautfarbe zum Befehlshaber der venetianischen Flotte hochzudienen. Er glaubt, er sei durch seine Taten und seine Stellung berechtigt, eine angesehene Venetianerin zu ehelichen, die ihn ihrerseits wegen seines Mutes und seiner Leiden liebt. Die Weißen aber sehen das ganz anders: der Vater der Desdemona, Brabantio, verwünscht seine Tochter, der Rivale Rodrigo lässt sich in eine Intrige einspannen, um die Frau doch noch zu ergattern,  der Untergebene Jago, geldgieriger Intrigant und Rassist reinsten Wassers, hasst und verachtet den „Mohren“ aus ganzem Herzen. Unter Ausnutzung des Charakters und der Herkunft Othellos wird die Falle gebaut, in die Othello blind hineintappt, und als er die Wahrheit erkennt, tötet er sich selbst.

In beiden Fällen, so unterschiedlich sie sind, hat die Frau keine Möglichkeit, sich der Opferrolle zu entziehen. Egal was sie tut: es wird ihr als Beweis ihrer „Verderbtheit“ angerechnet. Dass Frauen (wie übrigens auch die Männer) „verderbt“ sind – das ist aus der Sicht Jagos überhaupt keine Diskussion wert. Also wird er das Gift dieser Vorstellung auch dem harmlosen Othello einflößen.

Jago im Dialog mit dem in Desdemona verliebten Rodrigo:

JAGO
…Es ist undenkbar, daß Desdemona den Mohren auf die Dauer lieben sollte – tu Geld in deinen Beutel! – noch der Mohr sie; es war ein gewaltsames Beginnen, und du wirst sehn, die Katastrophe wird eine ähnliche sein. Tu nur Geld in deinen Beutel; so ein Mohr ist veränderlich in seinen Neigungen; fülle deinen Beutel mit Geld; die Speise, die ihm jetzt so würzig schmeckt wie Süßholz, wird ihn bald bittrer dünken als Koloquinten. Sie muß sich einem Jüngeren zuwenden; hat sie ihn erst satt, so wird sie den Irrtum ihrer Wahl einsehn. Sie muß Abwechslung haben, das muß sie; darum tu Geld in deinen Beutel! Wenn du durchaus zum Teufel fahren willst, so tu es auf angenehmerem Wege als durch Ersäufen. Schaff dir Geld, soviel du kannst! Wenn des Priesters Segen und ein hohles Gelübde zwischen einem abenteuernden Afrikaner und einer überlistigen Venezianerin für meinen Witz und die ganze Sippschaft der Hölle nicht zu hart sind, so sollst du sie besitzen….

Beide Legebilder sind aus Schnittresten, die mir Jürgen Küster zukommen ließ.

Avatar von Unbekannt

About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
Dieser Beitrag wurde unter Dichtung, Erziehung, Katastrophe, Leben, Legearbeiten, Meine Kunst, Psyche, Stufen Blog-Challange abgelegt und mit , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Responses to 112 Stufen, 61 Eifersucht (Tolstoi, Shakespeare)

  1. Avatar von Myriade Myriade sagt:

    Dieses fast realistische Othello-Profil war auch ein zufälliges Schnipsel ??

    Gefällt 1 Person

  2. „Wenn du gesprochen hättest, Desdemona,“ dann hättest du ein paar Ohrfeigen beommen und geglaubt hätte dir ohnehin keiner. Wie wichtig du dich nimmst – es geht um den Mann, seine Ehre, seine Kinder, seinen Besitz. So steht es schon in den 10 Geboten, denn wir haben die Moral und die Regeln von Nomadenstämmen mit Vielweiberei übernommen.
    Und nicht viel dran geändert.

    Like

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..