112 Stufen, 58: Verführen (Don Juan, Bertold Brecht)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Legebild mit Schnipseln von Ulli Gau

Natürlich kam mir als erster wieder Faust in den Sinn, der Gretchen verführt. Doch eine andere Figur wird dem Archetypen des Verführers noch mehr gerecht: Don Juan. Er ist (wie Faust) weder ein Autor noch eine literarische Gestalt noch eine eindeutige historische Person. Don Juan ist ein Archetyp, eine Sage, ein Mythos. Und was ist ein Mythos? Eine Erzählung mit einem unveränderlichen Kern, die an den Rändern immer wieder variiert werden kann.

Don Juan existierte schon lange, bevor er im frühen 17. Jahrhundert (1613) durch den spanischen Mönch Gabriel Tellez (1579 – 1648), der sich Tirso de Molina nannte, zur literarischen Gestalt wurde.  „El burlador de sevilla et convidado de piedra“ (Der Verführer von Sevilla und der steinerne Gast) war eines von 400 Stücken von de Molinas Hand. 82 Stücke sind noch vorhanden, und etliche werden weiterhin auf den Bühnen der Welt gespielt.

Worum geht es? Um die Verführung von Frauen, natürlich. Nur darum? Nein, vor allem geht es um Tugend und Gotteslästerlichkeit („Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt“, sagt Iwan, einer der Karamasov-Brüder).  Der erklärte Atheist Don Juan testet die Werte der Gesellschaft bis zum Extrem aus. So ziemlich jedes Tabu seiner Zeit tritt er mit Füßen: Ehe? Nonnengelöbnis? adliger Verhaltenskodex? Treue? Wahrheitsliebe? Kirche? Glauben? – ihm gelten sie nichts. Das einzige, was für ihn zählt, ist die Befriedigung seiner egoistischen Impulse.  Sein Ende wird ihm schließlich nicht von einem der aufgebrachten männlichen Verwandten der verführten Damen bereitet, sondern durch überirdisches (bzw unterirdisches) Eingreifen eines „steinernen Gastes“, der ihn mit sich in die Hölle zieht.

Die Thematik ist charakteristisch für die Übergangsepoche von Renaissance zu Barock: der selbstbewusste, sich erstmals als Ich hoch aufrichtende Renaissancemensch wird in der Gegenreformation bis zur Karikatur entstellt: er ist nun ein sittenloses zynisches Wesen, dem nichts heilig ist, da es nur an sich selbst und nicht mehr an die liebe Kirche glaubt. Wer sich so als Mensch überhebt, wird übel enden.

Seit 1630, als de Molinas „Verführer von Sevilla und der steinerne Gast“ erstmals im Druck erschien, ist der Stoff endlos variiert worden.  Französisch und „stubenrein“ wurde er in Molieres gleichnamigem Lustspiel (1665 uraufgeführt). Molieres Landsmann und Zeitgenosse Thomas Corneille setzte es in Reime. Carlo Goldoni brachte den Stoff nach Italien zurück (1736 in Venedig uraufgeführt), doch wurde der tödliche „steinerne Gast“ nun zum altbewährten „Blitzstrahl“.  Christoph Willibald Gluck brachte den Stoff als erster mit dem Ballett Don Juan auf die Musikbühne (1761 in Wien uraufgeführt). Es folgten etliche andere, die Krönung war dann Mozarts „Don Giovanni“ (1787).

War damit nun endlich Schluss? Weit gefehlt. Jetzt ging es erst richtig los. Ein paar der vielen Namen seien noch erwähnt, aber ich habe jetzt keine Lust, die Daten nachzuschlagen (die komplette Liste findet sich bei Wikipedia): 19. Jahrhundert: E.T.A. Hofmann, Lord Byron, Grabbes „Don Juan und Faust“,  Alexander Puschkins „Steinerner Gast“, Charles Baudelaires „Don Juan aux enfers“, Richard Strauß‘ Tondichtung „Don Juan“ (nach Nikolaus Lenau, der auch ein Don-Juan-Drama schrieb).

20. Jahrhundert: Shaws „Man and Superman“, Apollinaires Roman Les exploits d’un jeune Don Juan, Alexander Blok, Ödön von Horvarth: Don Juan kommt aus dem Krieg (1937), Max Frisch: Don Juan oder die Liebe zur Geometrie, Henry de Motherlants Roman Don Juan, Gottfried Benns Gedicht Don Juan gesellte sich zu uns, Ernst Bloch: Don Giovanni, allen Frauen und die Hochzeit, George Sand: „Verflucht seist du, Don Juan“, Albert Camus: Der Don-Juanismus.

21. Jahrhundert:  Peter Handtkes Erzählung Don Juan (erzählt von ihm selbst), Jim Jarmushs Film „Broken flowers“ usw, usf.

Zu Don Juan trat Anfang des 19. Jahrhunderts ein anderer selbsternannter Verführer in Konkurrenz: Giacomo Casanova….

Uff! Ich gebe zu, dass mich das Thema der Verführung ohne Liebe im Grunde anwidert.

Und so möchte ich mit einem Brecht-Gedicht von 1925 schließen. Brecht, wie Don Juan Atheist und Hedonist, wird zwar nicht durch einen Glauben an ein „morgen“, wohl aber durch sein soziales Gewissen vor Exzessen des Egoismus geschützt.

Bertold Brecht

Gegen Verführung

Laßt Euch nicht verführen!
Es gibt keine Wiederkehr.
Der Tag steht in den Türen,
ihr könnt schon Nachtwind spüren:
Es kommt kein Morgen mehr.

Laßt Euch nicht betrügen!
Das Leben wenig ist.
Schlürft es in vollen Zügen!
Es wird Euch nicht genügen,
wenn Ihr es lassen müßt!

Laßt Euch nicht vertrösten!
Ihr habt nicht zu viel Zeit!
Laßt Moder den Erlösten!
Das Leben ist am größten:
Es steht nicht mehr bereit.

Laßt Euch nicht verführen
Zu Fron und Ausgezehr!
Was kann Euch Angst noch rühren?
Ihr sterbt mit allen Tieren
und es kommt nichts nachher.

Legebild mit Schnipseln von Jürgen Küster

 

 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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3 Responses to 112 Stufen, 58: Verführen (Don Juan, Bertold Brecht)

  1. Avatar von Myriade Myriade sagt:

    Eines meiner liebsten Brecht-Gedichte !!

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Ich liebe es auch. Und das, obgleich ich durchaus glaube, dass es ein Morgen gibt. Was aber nicht bedeutet, dass das Hier und Jetzt nicht dazu da ist, voll gelebt zu werden. Die kirchlich vermittelte Vorstellung, dass man hier darben soll, um dort zu genießen, ist mir vollkommen fremd.

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  2. Brecht ist einfach toll!

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