112 Stufen, 57: schmachten (Matthias Claudius)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Gestern öffnete der verhinderte Dichter Balduin Bählamm spaltbreit ein Erinnerungskästchen, heute darf er das Wort „schmachten“ vertreten. Wilhelm Buschs Dichter-Kreatur, der arme Poet, dem die krude Realität so böse Streiche spielt und der seine heilige Pflicht dennoch keinen Augenblick verrät, muss hier einfach einmal in Erscheinung treten. Denn um Dichtung handelt es sich ja bei diesem Treppenaufstieg vor allem. Möge der Mond der Poeten auch mir die Stufen beleuchten!

Der Mond. Dies Wort so ahnungsreich,
So treffend, weil es rund und weich –
Wer wäre wohl so kaltbedächtig,
So herzlos, hart und niederträchtig,
Daß es ihm nicht, wenn er es liest,
Sanftschauernd durch die Seele fließt? –

Das Dörflein ruht im Mondenschimmer,
Die Bauern schnarchen fest, wie immer.
Es ruhn die Ochsen und die Stuten,
Und nur der Wächter muß noch tuten,
Weil ihn sein Amt dazu verpflichtet,

Der Dichter aber schwärmt und dichtet.

 

Illustration der Szene durch Wilhelm Busch

O weh! Balduin Bählamm schwärmt, aber er schmachtet nicht! Da hat mich mein Gedächtnis doch glatt betrogen. Wieder muss ich Balduin zurück in den Erinnerungskasten sperren (ja, dem Armen gelingt wirklich gar nichts!) und jemand anderen hier hersetzen. Doch wen?

Da fällt mir ein: Es gibt doch noch andere als die ewig unglücklich-glücklich verliebten Poeten, die schmachten! Die Erde! Das Vieh! Sie schmachten nach Regen. Ich weiß, ihr schmachtet grad nach Sonne, bei uns aber, hier im mediterranen Raum, ist es der Regen, der fehlt. Und so singe ich auf dieser Stufe aus vollem Halse das Regenlied von Matthias Claudius (1740-1815). Der Dichter stammte aus Holstein, starb schließlich in Hamburg – dürfte sich also mit Regen bestens auskennen. Und doch!

Christiane hat dies Lied auch schon mal veröffentlicht, und zwar am 25. Juli 2022 (hier), denn vor drei Jahren jammerten sogar die Hamburger, dass es zu trocken sei. Ich sags ja: Das Wetter ist mal so, mal anders!

Ein Lied um Regen

Der Erste:
Regen, komm herab!
Unsre Saaten stehn und trauern,
Und die Blumen welken.
Der Zweite:
Regen, komm herab!
Unsre Bäume stehn und trauern!
Und das Laub verdorret.
Der Erste:
Und das Vieh im Felde schmachtet,
Und brüllt auf zum Himmel.
Der Zweite:
Und der Wurm im Grase schmachtet,
Schmachtet und will sterben.
Beide:
Laß doch nicht die Blumen welken!
Nicht das Laub verdorren!
O, laß doch den Wurm nicht sterben!
Regen, komm herab!

 

 

„Schamanischer Regen“, neurografische Zeichnung

 

Das Gedicht steht im „Wandbecker Boten“. Ich zitiere nach dem wunderbaren Projekt Gutenberg, das mir viele mir sonst schwer zugängliche Texte frei Haus liefert. Für die literaturgeschichtlichen Hintergrundinformationen verlasse ich mich mal wieder auf Wikipedia:

„Der Wandsbecker Bothe war die von Heinrich Carl von Schimmelmann in Wandsbeck (bis zum Jahre 1879 noch mit „ck“ geschrieben, heute: Wandsbek) herausgegebene Zeitung, die als Nachfolgerin des populären Wandsbecker Mercurius von 1770 bis 1775 von Matthias Claudius als einzigem Redakteur geschrieben wurde.“ 

 

 

 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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4 Responses to 112 Stufen, 57: schmachten (Matthias Claudius)

  1. Um die Verbindung von Schmachten zum Verlieben – zwei oft genug artverwandte Begriffe – herzustellen:
    Regen, kommt herab!
    Wir verschmachten noch.
    Denn du Regen tropfst herab
    und wir sitzen aber doch

    in der Gartenlaube still,
    keiner kommt uns stören.
    Will doch sehen, was er will
    und ihn flugs erhören!

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  2. Avatar von sonnenspirit sonnenspirit sagt:

    und hatte das Wort nicht auch mit Hunger zu tun? ein seltsames Wort auf so einer Treppe, was hatten die eigentlich im Sinn mit diesen Wörtern da?

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  3. Laß doch nicht die Blumen welken!
    Nicht das Laub verdorren!
    O, laß doch den Wurm nicht sterben!
    Regen, komm herab!

    So sollte es sein, aber bitte Regen in Maßen und keinen Starkregen, der den Menschen ihre Häuser nimmt und das Land überflutet!

    Ich kann einfach kein GefälltmirSternchen setzen und ich hab keine Ahnung, wieso… *seufz*

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