112 Stufen, 53: Handkuss (Fritz Rotter, Ralph Erwin)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Wer kennt ihn nicht, den Tango-Schlager Ich küsse Ihre Hand, Madame, zumindest die erste Strophe? Das Lied war, als ich es zuerst hörte, so herrlich aus der Zeit gefallen und klang zutiefst wienerisch in meinen Ohren. Niemand küsste jetzt mehr die Hand der Frauen, die die Trümmer beiseiteschaufelten, auf dem Kartoffelacker schufteten und versuchten, mitsamt ihren Kinder zu überleben. 

Ich küsse Ihre Hand, Madame, und träum’, es war Ihr Mund.
Ich bin ja so galant, Madame, und das hat seinen Grund.
Hab’ ich erst Ihr Vertraun, Madame, und Ihre Sympathie,
wenn Sie erst auf mich bau’n, Madame.
Ja, dann werden Sie schau’n, Madame
Küss’ ich statt Ihrer Hand, Madame,
nur Ihren roten Mund.

Wer diesen Schlager erdichtete und komponierte? Keine Ahnung! Ich finde es immer interessant, den persönlichen und geschichtlichen Hintergrund von Allerwelts-Phänomenen mit zu erfassen. Ein Schlager wie dieser, immer wieder umgedichtet und neu interpretiert: wer hatte ihn ursprünglich verfasst? Und wie waren seine Lebensverhältnisse? Zum Glück weiß Wikipedia solche Sachen:

Der Erdichter der Schnulze hieß Fritz Rotter (1900-1984), ein Wiener Jude, der schon mit 17 begann, Texte fürs Kabarett und Chansons zu schreiben. In den 20er Jahren ging er nach Berlin. Die Zahl der von ihm getexteten Schlager ist riesig (es sollen ca 1200 sein), darunter Ohrwürmer wie  Wenn der weiße Flieder wieder blüht – Veronika, der Lenz ist da – Ich hab’ mich so an dich gewöhnt – Immer wenn ich glücklich bin muß ich weinen – und eben auch dies Ich küsse ihre Hand, Madame. Auch seine Unsinnsgedichte waren höchst populär, etwa Was macht der Maier am Himalaya? – Heut war ich bei der Frieda (das tu ich morgen wieder) – Heut ist die Käthe etepetete – Wieso ist der Walter so klug für sein Alter.

Und was wurde aus ihm? Klar, er musste 1933 emigrieren, zunächst nach Österreich, dann nach England und in die USA, wo viele seiner Lieder – nun englisch-sprachig – einen Riesenerfolg hatten. Nach dem Krieg kam er zurück nach Europa, und zog sich zuletzt in die Schweiz zurück.

Und der Komponist des Liedes? Das war Ralph Erwin (1896-1943), eigentlich Erwin Vogl, Pseudonym Harry Wright – auch er Jude und Kind der Habsburger Monarchie, allerdings der Peripherie (Österreich-Schlesien): Sein Leben war noch weit turbulenter als das des Texters: Er wurde als jugendlicher Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg schwer verwundet, studierte dann Musik in Wien, ging Ende der 20er Jahre nach Berlin, wo er die Musik für die bekanntesten damaligen Filme schrieb – und eben auch dies „Ich küsse ihre Hand, Madame“  für den gleichnamigen Stummfilm von 1929 mit Marlene Dietrich. Richard Tauber sang darin das Lied für den Hauptdarsteller. Er schrieb für zahlreiche deutsch-französische Koproduktionen vor allem Tango und Foxtrott. 1933 musste auch er die Koffer packen. Er emigrierte nach Frankreich, wurde nach dem deutschen Einmarsch interniert und nach Dancy verschleppt. Seine Frau konnte ihn befreien. Er versteckte sich, starb 1943 an einem Bauchschuss (von wem?).

undefinedUnd der Sänger des Liedes, Richard Tauber (1891-1948)? Auch er war Österreicher, in Linz unehelich geboren von einer römisch-katholischen Soubrette, deren Namen Denemy er zunächst trug. Sein Vater Richard Tauber, zum Katholizismus konvertierter Jude und Intendant an der Oper von Chemnitz legalisierte ihn später. Gefördert von seinem Vater, bei dem er seit 1903 lebte, studierte er Musik und hatte sein Debüt 1913 in Chemnitz mit dem Tamino (Zauberflöte)…..Mit dem Lied „Dein ist mein ganzes Herz“ aus Lehárs Operette Das Land des Lächelns wurde Tauber zum Weltstar. … 1933 wurde er von SA-Horden in Berlin als „Ludenlümmel“ angegriffen. 1938 nach dem Anschluss Österreichs machte eine Welttournee und ließ sich schließlich in London nieder, wo er sich vor allem dem Komponieren und Dirigieren widmete und häufig in der Truppenbetreuung auftrat. Er erhielt die britische Staatsbürgerschaft und starb 56jährig, hoch geehrt, 1947 an Lungenkrebs.

Das also waren sie, deren Wiener Charme die „leichte Muse“ der 20er Jahre in Berlin so wunderbar befruchtete zu einer Zeit, als sich über dem Kontinent bereits eine dunkle Wolke des Hasses zusammenzog.

 

Von den im Netz verfügbaren Interpretationen wählte ich die von Fritz Wunderlich (1930-1966), denn er hatte (wie Richard Tauber) sein Operndebüt mit dem Tamino (Zauberflöte), und auch er war ein Star der Wiener Staatsoper und der Salzburger Festspiele. Ein durch einen Treppensturz verursachter Schädelbruch beendete sein Leben, als er gerade dem Höhepunkt seiner Karriere mit einem Auftritt an der Metropolitan Opera in New York zustrebte.

(Die in den Bildern verwendeten Schnipsel entstammen größtenteils einer Spende von Hannah)

 

 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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12 Responses to 112 Stufen, 53: Handkuss (Fritz Rotter, Ralph Erwin)

  1. Avatar von Ulrike Sokul Ulrike Sokul sagt:

    Mein sehr charmanter Liebesliebster beherrscht den Handkuß perfekt und scheut sich nicht, mir gelegentlich in der Öffentlichkeit einen galanten Handkuß zu geben. Diese Geste löst beim zufälligen Publikum stets eine Mischung aus Bewunderung und Schmuzeln – und bei den Damen auch manchmal einen Sehnsuchtsblick – aus.

    Und die Stimme von Fritz Wunderlich harmoniert vorzüglich zum Liedtext.

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Mein Mann küsst mir auch die Hände – es begann eigentlich erst im Alter…Und manchmal küsse ich auch seine – die Innenfläche.

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      • Avatar von Ulrike Sokul Ulrike Sokul sagt:

        Wie schön, daß Ihr Euch auf diese Weise wechselseitig zärtliche Wertschätzung zeigt! Der Handluß mit echter Berührung von Lippen und Handrücken oder Handinnenfläche, ist ein Ausdruck von Vertrautheit und Verbundenheit, ja, von Intimität.
        Der galante Handkuß, von dem ich geschrieben habe, meint aber die Art von eher öffenlichem Handkuß, die sich mit der Andeutung des Kusses begnügt und daher kurz vor der Berührung innehält.

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  2. Man fragt sich nach dieser Zusammenstellung, und weitere Beispiele sind leicht zu finden, ob der Kampf der gewalttätigen Horden nicht eben gerade auch dem galt: Einem Gefühl und Ausdruck der Leichtigkeit, auch des Leichtsinns, der Lebenslust, gern ein wenig albern, aber doch eigentlich kultiviert…

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  3. Schön, dass du an die Lieder und ihre Urheber auch meiner Kindheit (vermittelt auch durch die Älteren) erinnert hast. 🙂

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  4. Titel und Lieder sind mir bekannt, auch die Namen der Urheber und Komponisten, aber über ihr Leben wußte ich gar nichts

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  5. Meiner war es auch nicht, aber was anderes gab es in unserer Kindheit kaum zu hören, außer den Volksliedern in der Schule. Oder auf dem Pausenhof: Ringlein, Ringlein du musst wandern…

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  6. Es klappert die mühle am rauschenden Bach. Klipp klapp klipp klapp
    Am Brunnen vor dem tore…
    Solche Lieder kannte ich auch. Die sangen meine Oma und ihre Geschwister an geburtstagen und mir gefiel es.

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