112 Stufen, 52: Verehrer (Penelopes Freier und Stefan George)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Ein griechisches Sprichwort besagt: „Möchtest du jemanden verehren, halte sich fern von ihm“. Das heißt ja wohl nichts anderes als: Mach dir was vor! Denn siehst du jemanden aus der Nähe, wirst du aufhören, ihn zu verehren. Du wirst ihn sehen,wie er in seinem Alltag ist. Vielleicht wirst du ihn lieben, vielleicht wird er dich enttäuschen, vielleicht ist er dir unverständlich oder auch gleichgültig.

Ich suche Nähe, nicht Ferne. Mich zieht es zum wirklichen Menschen, nicht zum idealen. Verehren ist nichts für mich.

Etwas anderes ist es, jemanden zu ehren. Da ist Nähe erwünscht. Ich ehre die gebrechliche Frau, indem ich ihr unter den Arm greife und ihr über die stark befahrene Straße helfe. Ich ehre den Lehrer, der Geduld mit mir hatte und meine kindliche Schutzlosigkeit nicht missbrauchte, durch meine Erinnerung. Ich ehre die Natur um mich, indem ich sie von Unrat befreie.

Verehrung braucht und erzeugt Abstand. „Verehrer“ einer Frau andererseits suchen nicht Abstand, sondern, in kaschierter Form, eine Nähe zu ihr, die ihrer „Ehre“ den Garaus machen soll, egal wie hübsch ihre verliebten Verse klingen mögen. Ein Klassiker: Faust verehrt Gretchen.

Während ich über „Verehrer“ sinniere, fallen mir die Verehrer der Penelope ein, die man gemeinhin die „Freier“ nennt: μνηστήρες (mnistires) auf griechisch. Verehrten sie die Frau des Odysseus? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ehrten sie sie? Nein. Sie schlemmten, verbrauchten ihr Erbe und bedrängten sie. Sie umwarben sie, um sie zu erwerben. Denn sie wollten sich die Königskrone von Ithaka aufsetzen – und das ging nur, wenn sie Penelopes „Ja“ erhielten.

Und die Dichter? Da fällt mir ein Buch ein, das mir einst ein Freund verehrte und das ich in Athen aufbewahre. Es ist hübsch aufgemacht und trägt den Titel: „Jean Paul – Ein Stundenbuch für seine Verehrer“. Stefan George (1868 – 1933) und Karl Wolfskehl (1869 – 1948) haben es 1901 herausgegeben und bevorwortet, Melchior Lechter (1865 – 1937) hat die grafische Gestaltung besorgt.

Abb aus dem internet

Stefan George verehrte nicht nur, er schuf vor allem einen Dunstkreis der Verehrung um sich selbst, der andere unterwarf, ausbeutete oder auf Distanz hielt.  Bei aller Hochachtung vor seiner dichterischen Leistung – ja, viele seiner Gedichte sind vortrefflich! – und seiner konsequenten Ablehnung der Verführungen durch die neue Machtelite Deutschlands bleibt mir sein elitärer Anspruch auf Verehrung zutiefst suspekt.

Nein, ich eigne mich nicht zum Verehren. Die Sehnsucht vieler Menschen nach verehrungswürdigen Vorbildern ist mir fremd. Ich bin, wie jedermann, von einer Mutter geboren, bin gut und schlecht. Menschen werde ich nie verehren, immer aber ehren, wie ich mich selbst ehre, in dem Maße wie ihnen und mir Ehre gebührt. („Die Würde des Menschen ist unantastbar“.)


Nun noch ein vortreffliches Gedicht von Stefan George, um ihn zu ehren. Freilich, auch hier wird seine Selbsterhöhung spürbar: er ist anders, feinsinniger als all die anderen, die nichts verstehen, nichts sehen und daher armselig dahinvegetieren.


Stefan George
Alles habend alles wissend seufzen sie:
>Karges leben! drang und hunger überall!
Fülle fehlt!<
Speicher weiss ich über jedem haus
Voll von korn das fliegt und neu sich häuft –
Keiner nimmt ..
Keller unter jedem hof wo siegt
Und im sand verströmt der edelwein –
Keiner trinkt ..
Tonnen puren golds verstreut im staub:
Volk in lumpen streift es mit dem saum –
Keiner sieht.

Der Stern des Bundes . 1. Auflage 1914

 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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4 Responses to 112 Stufen, 52: Verehrer (Penelopes Freier und Stefan George)

  1. Das Leben, ein falsches Versprechen.
    Wohl denen, die sich darüber erheben können. Ihnen war Gold in die Wiege gelegt.

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  2. verehren? Menschen verehren?

    Auf die Schnelle wüsste ich jetzt keinen.

    verehren klingt nach Heiligenschein und mit einem heiligenschein sollte man sehr sorgsam umgehen. Da bricht so schnell eine Zacke und schon liegt der schöne Schein im graben .

    Aber Ehre, wem Ehre gebührt und da fällt uns bestimmt jemand ein *lächel*

    .

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  3. Avatar von alphachamber alphachamber sagt:

    Hello Frau Kazakou! Ihre Seite wird immer interessanter…sehr lesens-und ansehenswert!
    LG

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