Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Die Welt der Menschen besteht zu großen Teilen aus gegenseitigen Vorwürfen. Sie sind überall. Gelegentlich schauen mich sogar Erde und Himmel vorwurfsvoll an, sei es, weil ich als Mensch an ihrer Zerstörung mitwirke, sei es, weil ich ihre Schönheit nicht ausreichend würdige, sei es, weil ich trotz all ihrer Angebote unzufrieden bin und sie eigentlich mehr Dankbarkeit erwartet hätten…
Vieles könnte ich über den Mechanismus des Vorwurfs schreiben, denn ich habe ihn in unzähligen Therapiestunden erlebt – aber ich habe keine Lust dazu. Stattdessen stelle ich nur eine Frage, die auch eine wissenschaftliche Studie beschäftigte: Ist es ein Beweis für die Schuld des Angeklagten, wenn er lauthals seine Unschuld beteuert? Viele, die einen Vorwurf erheben, und der andere wehrt sich lautstark, sehen darin einen Beweis für seine Schuld, ich aber nicht, denn ich habe schon früh meinen Wilhelm Busch verinnerlicht:
„Laut ertönt sein Wehgeschrei,
denn er fühlt sich schuldenfrei“
„Max und Moritz“ kann ich auswendig. Doch diese Passage habe ich von wilhelm-busch.de übernommen.
Als die gute Witwe Bolte
Sich von ihrem Schmerz erholte,
Dachte sie so hin und her,
Daß es wohl das beste wär,
Die Verstorbnen, die hienieden
Schon so frühe abgeschieden,
Ganz im stillen und in Ehren
Gut gebraten zu verzehren.
Freilich war die Trauer groß,
Als sie nun so nackt und bloß
Abgerupft am Herde lagen,
Sie, die einst in schönen Tagen
Bald im Hofe, bald im Garten
Lebensfroh im Sande scharrten.

Ach, Frau Bolte weint aufs neu,
Und der Spitz steht auch dabei.
Max und Moritz rochen dieses:
„Schnell aufs Dach gekrochen!“ hieß es.

Durch den Schornstein mit Vergnügen
Sehen sie die Hühner liegen,
Die schon ohne Kopf und Gurgeln
Lieblich in der Pfanne schmurgeln.
Eben geht mit einem Teller
Witwe Bolte in den Keller,
Daß sie von dem Sauerkohle
Eine Portion sich hole,
Wofür sie besonders schwärmt,
Wenn er wieder aufgewärmt.
Unterdessen auf dem Dache
Ist man tätig bei der Sache.
Max hat schon mit Vorbedacht
Eine Angel mitgebracht.

Schnupdiwup, da wird nach oben
Schon ein Huhn heraufgehoben!
Schnupdiwup, jetzt Numro zwei!
Schnupdiwup, jetzt Numro drei!
Und jetzt kommt noch Numro vier:
Schnupdiwup, dich haben wir!
Zwar der Spitz sah es genau
Und er bellt: Rawau, rawau!
Aber schon sind sie ganz munter
Fort und von dem Dach herunter.
Na, das wird Spektakel geben,
Denn Frau Bolte kommt soeben;
Angewurzelt stand sie da,
Als sie nach der Pfanne sah.

Alle Hühner waren fort,
„Spitz!“ das war ihr erstes Wort.

„O du Spitz, du Ungetüm!
Aber wart, ich komme ihm!“
Mit dem Löffel groß und schwer
Geht es über Spitzen her;
Laut ertönt sein Wehgeschrei,
Denn er fühlt sich schuldenfrei.

Max und Moritz im Verstecke
Schnarchen aber an der Hecke.
Und vom ganzen Hühnerschmaus
Guckt nur noch ein Bein heraus.
Dieses war der zweite Streich,
Doch der dritte folgt sogleich.



Bei einem klassentreffen unlängst warf eine ehemalige schülerin nach 50 jahren ihrem mathelehrer vor, ihr vorgeworfen zu haben, dass sie die hilfe ihres bruders bei einer Klausur in anspruch genommen habe.
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Ungerechte Anschuldigungen graben sich besonders tief ins Gedächtnis ein (zumindest auch bei mir). Allerdings tun dies auch die erfolgreichen Versuche Schuld auf andere abzuschieben, die dann dafür die Strafe bekommen (und man war zu feig es jemals zuzugeben). Bei manchen Straftätern dürfte das Gewissen aber anders weit weniger vorwurfsvoll sein 🤔
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Diese Max und Moritz Geschichte machte mir die schlimmen Buben schon als Kind unsympathisch: Einen Wehrlosen für die eigene Schuld zahlen lassen ist wirklich einen großen Vorwurf wert 😉
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Wir erfahren wenig über die zu recht üblen Streichen aufgelegten Knaben, ihre Lebensverhältnisse und ob sie etwa Hunger hatten, gar nichts über ihr Innenleben, etwa ein schlechtes Gewissen (wovon wir aber nicht ausgehen müssen). Mehr erfahren wir darüber, was sie angestellt haben. Und die vollkommen maßlose Reaktion der Gesellschaft, der Erwachssenen. Die nicht nur, wie in zahllosen anderen Geschichten auch, mit zeittypischer Brutalität sondern schlicht mit Mordlust reagiert.
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Der Vorwurf, noch mehr der falsche Vorwurf verdarb schon manch einen Appetit. Nicht den der Witwe Bolte, die’s Sauerkraut nun leer essen durfte und die ansonsten viel zu viel gegessen hätte – drei Hühner und einen Hahn! – aber beispielsweise einer Kuh, die nicht selbst wählen durfte, sondern das vom Mähwerk geschnittene, vom Ladewagen aufgegriffene Grünfutter zu verzehren hatte, egal, was an Unbekömmlichem darin war. Und was ihr einfach vorgeworfen wurde. Darum sollte man, selbst wenn man sich auf den gleichmäßigen, stetigen Schwung der Futtergabel versteht, beim Vorwerfen vorsehen, zurückhalten und lieber nochmal nachprüfen, nachdenken, was vorzuwerfen wäre.
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Ach ja! Die Witwe Bolte. Schön, dass du meine Schnipsel dazu verwendet hast. Und wie schön wäre es, wenn die Welt ohne Vorwürfe auskäme.
Liebe Grüße aus Berlin 🙂
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Max und Moritz
ich las sie mit Vergnügen und dachte über die Vorwürfe kein bissel nach…
Ich las sie und freute mich an den Lausbubenstreichen. Wobei mir aber auffiel, daß ich solche Streiche gar nicht kannte… und nie einen solchen hätte erleben wollen.
Ich glaube, daß mir der Lehrer Lempel am meisten leid tat.
Heute würde ich anders lesen
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