„Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls, erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben, allein die Ahndung will sich selbst in keine feste Formen fügen, und scheint kein höherer Schlüssel werden zu wollen. Ein Alkahest scheint über die Sinne der Menschen ausgegossen zu sein. Nur augenblicklich scheinen ihre Wünsche, ihre Gedanken sich zu verdichten. So entstehen ihre Ahndungen, aber nach kurzen Zeiten schwimmt alles wieder, wie vorher, vor ihren Blicken.“
So beginnt der unvollendete Roman „Die Lehrlinge zu Sais“ von Novalis, entstanden am Ende des 18. Jahrhunderts (1798-1799) und posthum 1802 erstmals veröffentlicht. Immer kommen mir diese Sätze in den Sinn, wenn ich die Rätselschrift der Natur zu entziffern versuche, wie hier auf Myriades Foto 4 zur Impulswerkstatt.

Überall stoßen wir auf die Wunderschrift der Natur, aber vergeblich suchen wir sie zu entziffern. Und da heißt es dann oft: es gibt nichts zu entziffern, irgendwelche Insekten haben sich hier durch den Bambus, den Granatapfel gefressen und etwas hinterlassen, was Schriftzeichen ähnelt, aber ein Sinn steckt nicht dahinter.

Und doch ziehen mich – und viele andere – die Zeichen der Natur magisch an, als verberge sich dahinter eine Chiffrenschrift, die, wenn wir sie nur verstünden, uns Auskunft geben würde über all die Geheimnisse der Natur und unserer Existenz als Menschen.
So sammelte ich erstarrte Schlänglein aus dem Staub meines Ateliers und betrachtete sie lange. 
Ich legte mir die Schlänglein zu immer neuen Sätzen zusammen:
Dieses bildet das Ewigkeitszeichen nach.

Und jene?

Würde sie mir ihr Geheimnis offenbaren, wenn ich sie in ein Lichtzeichen verwandelte?

In einem Text deutete ich die nun immer mehr anwachsende Reihe der Schlänglein als „Geheimschrift der Toten“.

Vermögt ihr, Verstorbene, uns eure Gedanken zu schicken?
Eine Geheimschrift vielleicht, in der ihr uns sagt,
was uns erwartet, was wir dann endlich erblicken
und kennenlernen, wonach wir vergebens gefragt?
Wie ist eure Sprache, und wie sind die Zeichen
Die ihr uns, den Lebenden, sendet, von dort?
Sinds Blumen? Sinds Wolken? Oder die bleichen
Gesichter der Menschen, die vernommen das Wort?
Ich fand einst im Staube zehn Schlänglein, erstarrten,
was brachte sie um? Was wars für ein Gift?
Und aus ihren Leibern, den wundervoll zarten
Da formte sich mir eine heilige Schrift.
Darin kann ich lesen
Was wird und gewesen.
(Dienstags-Drabble vom 8.4.2025)
In allen Kulturen werden Formen der Natur als Zeichen gedeutet. Der Ouroboros („Schwanzverschlinger“, also die Schlange, die sich vom Schwanz her selbst verschlingt) gilt als Zeichen der Einheit des Alls: Werden und Vergehen, Individualisierung und All sind nur verschiedene Zustände ein und desselben. Alles ist eins. Oder richtiger: Eins ist alles, „Eins das All“. Ἓν τὸ πᾶν
![]()
(Illustration aus der „Chrysopoeia der Kleopatra“. Ἓν τὸ πᾶν ((Wikipedia: Uroboros)
„Lichtschrift“ ist die wörtliche Übersetzung von „Photografie“ aus dem Griechischen: ich schreibe mit Licht. Richtiger aber wäre zu sagen: das Licht schreibt sich ein in die Dinge, manchmal spielerisch, dann wieder hart und genau, enthüllend, verhüllend.

Es schreibt sich ein in die leichte Bewegung der Wellen

Gaslampe, Horn des Ziegenschädels, Gläser mit Pinseln werden mir hier zu Chiffren einer noch unentzifferten Schrift.

oder hingeworfene Zeichen und Linien verdichten sich zu menschlichen Figuren, scheinen lesbar zu werden.

Alles ist Zeichen … oder Unsinn.
Man kann sich der Natur verbunden fühlen. in ihr aufgehen oder man kann sich analytisch annähern. Was ich nicht glaube, ist, dass Phänomene der Natur Geheimnisse sind. Wir als Menschen können vieles entschlüsseln, anderes (noch) nicht und für manches fehlt uns einfach der Durchblick durch das Ganze, weil wir ja Teil der Natur und des gesamten Systems sind.
Diese „Geheimschrift der Natur“ wäre dann wohl so etwas ähnliches wie die Weltformel nach der die Physiker suchen. Allerdings leider auch erfolglos.
Danke für deinen nachdenklichen Beitrag und den Novalis-Text !
LikeGefällt 4 Personen
Danke für deinen Kommentar! Die Lust, die „Geheimschrift der Natur“ zu entziffern, hat aber nichts mit der Suche nach einer „Weltformel“ a la Einstein zu tun. Das geht in eine ganz andere Richtung. Auch kann ich deine Ansicht, dass die Phänomene der Natur keine Geheimnisse bergen, nicht nachempfinden. Ich finde ganz im Gegenteil, dass wir fast nichts über die Natur wissen. Wir wissen ja nicht mal, was Leben ist, wie es entstand und was das Sterben eigentlich ist.
LikeGefällt 1 Person
Wieso nicht? Die Natur drückt sich in der Sprache der Mathematik und der Physik aus bzw sind die Gesetze der Natur durch Mathematik und Physik erkennbar.
Dass wir nicht viel wissen, ja das denke ich auch. Ich würde nur nicht sagen, dass es sich um Geheimnisse handelt sondern, dass wir als Teil des Systems nicht von einer Metaebene aus schauen können und daher weit davon entfernt sind alles sehen und einordnen zu können …
LikeLike
Aus deinem Schlußsatz nehme ich mit:
alles ist Zeich(n)en oder gleich noch besser:
alles zeichnen! ☺️
LikeGefällt 1 Person
Und selbst im Unsinn kann so viel Sinn stecken
..ich muss nehr auf die Schriften der Natur achten. Ich übersehe sie viel zu oft
LikeGefällt 1 Person