112 Stufen, 11: Ehre (Goethe, Valentin und Gretchen)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Über das Thema der Frauenehre zerriss man sich in meiner Jugend noch die Münder – und tut es in den meisten Kulturen bis heute. Es sind nicht die betroffenen Frauen selbst, sondern ihre Umwelt, um deretwillen Frauen ihre Jungfräulichkeit und danach ihre eheliche Untadeligkeit „wie ihren Aufapfel“ hüten sollen. Denn daran hängt die „Ehre“ der ganzen Sippe. Gerade habe ich „Anna Karenina“ von Tolstoi beendet, die an diesem Konflikt zugrundegeht, und fühle noch den Nachhall in mir.

Den ersten prägenden Eindruck davon, welche Anmaßung im Ehrbegriff, dem die Frauen unterworfen werden, steckt, hinterließ mir in jungen Jahren eine Szene in Goethes Faust:  Gretchens Bruder Valentin beklagt sich bitter, dass Gretchen ihm sein Leben versaut habe: er kann sich beim Wein nicht mehr vor seinen Kumpanen rühmen, das tugendhafteste aller Mädchen zur Schwester zu haben.

Valentin:

Wenn ich so saß bei einem Gelag,
Wo mancher sich berühmen mag,
Und die Gesellen mir den Flor
Der Mägdlein laut gepriesen vor,
Mit vollem Glas das Lob verschwemmt,
Den Ellenbogen aufgestemmt,
Saß ich in meiner sichern Ruh,
Hört all dem Schwadronieren zu
Und streiche lächelnd meinen Bart
Und kriege das volle Glas zur Hand
Und sage: »Alles nach seiner Art!
Aber ist eine im ganzen Land,
Die meiner trauten Gretel gleicht,
Die meiner Schwester das Wasser reicht?«
Topp! Topp! Kling! Klang! das ging herum;
Die einen schrieen: »Er hat recht,
Sie ist die Zier vom ganzen Geschlecht.«
Da saßen alle die Lober stumm.
Und nun! – um’s Haar sich auszuraufen
Und an den Wänden hinaufzulaufen! –
Mit Stichelreden, Naserümpfen
Soll jeder Schurke mich beschimpfen!
Soll wie ein böser Schuldner sitzen
Bei jedem Zufallswörtchen schwitzen!
Und möcht ich sie zusammenschmeißen
Könnt ich sie doch nicht Lügner heißen.

Die persönliche Kränkung führt ihn dazu, Faust aufzulauern. Er ist bereit, ihm den „Schädel zu spalten“ und täte es auch, wenn Mephisto Faust nicht die Hand führen würde. Und so stirbt er selbst.

Geht es um die Schwester? Fragt er nach ihren Wünschen, ihren Qualen? Bedauert er sie vielleicht gar? O nein, ganz und gar nicht. Es geht nur um ihn selbst und seinen Ruf bei dem Kumpels. Der Tod beeindruckt ihn nicht, nur der Ehrverlust. Sterbend verflucht er sie.

Ich sterbe! das ist bald gesagt
Und balder noch getan.
Was steht ihr Weiber, heult und klagt?
Kommt her und hört mich an! (Alle treten um ihn.)
Mein Gretchen, sieh! du bist noch jung,

Bist gar noch nicht gescheit genung,
Machst deine Sachen schlecht.
Ich sag dir’s im Vertrauen nur:
Du bist doch nun einmal eine Hur,
So sei’s auch eben recht!

Du fingst mit einem heimlich an
Bald kommen ihrer mehre dran,
Und wenn dich erst ein Dutzend hat,
So hat dich auch die ganze Stadt.

Seine männlichen Ehrvorstellungen, die er mit der ganzen Gesellschaft teilt, machen ihn bitter und herzlos. Seine Schwester – eine Hure, eine Metze – verdient nichts als Verachtung, Ächtung und endlosen Jammer.

Ich seh wahrhaftig schon die Zeit,
Daß alle brave Bürgersleut,
Wie von einer angesteckten Leichen,
Von dir, du Metze! seitab weichen.
Dir soll das Herz im Leib verzagen,
Wenn sie dir in die Augen sehn!
Sollst keine goldne Kette mehr tragen!
In der Kirche nicht mehr am Altar stehn!
In einem schönen Spitzenkragen
Dich nicht beim Tanze wohlbehagen!
In eine finstre Jammerecken
Unter Bettler und Krüppel dich verstecken,
Und, wenn dir dann auch Gott verzeiht,
Auf Erden sein vermaledeit!“

Valentins letzte Worte sprechen Gretchen schuldig an seinem Tod. Er selbst fühlt sich im Recht und erwartet, dass Gott es genauso sieht wie er.

Ich sage, laß die Tränen sein!
Da du dich sprachst der Ehre los,
Gabst mir den schwersten Herzensstoß.
Ich gehe durch den Todesschlaf
Zu Gott ein als Soldat und brav.

Die Ehre des Soldaten Valentin


In dieser Welt wuchsen wir heran. Die Männer schlugen sich „ehrenhaft“ in Kriegen die Köpfe ein, und für die Frauen war nichts schlimmer, als mit einem „Liebhaber“ erwischt zu werden oder gar einen „Bastard“ zur Welt zu bringen.

Dieser lächerliche heuchlerische und bösartige Ehrbegriff der patriarchalischen Gesellschaft ist purer Terror und hat uns Frauen schlimmer deformiert als alles, was uns sonst angetan wurde. Denn viele von uns haben ihn verinnerlicht, leiden an ihm und geben ihn dienstbereit weiter an ihre Töchter und Söhne.

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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3 Responses to 112 Stufen, 11: Ehre (Goethe, Valentin und Gretchen)

  1. Genau. Einer der guten Gründe, warum ich „Faust“ mit meinem Kurs gelesen habe, obwohl das Stück an vielen Stellen deutlich ihre Möglichkeiten übersteigt. Aber dieses Frauenbild ist eines der Grässlichsten. Am Schluss wird sie dann für ihre Bravheit , sich nicht vom Teufel retten zu lasden, auch noch belohnt und kommt in den Himmel. Da könnt ich mich direkt übergeben.

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  2. Avatar von Myriade Myriade sagt:

    Diesbezüglich bin ich 100% derselben Meinung !!! Wo man nur hinschaut und keineswegs nur in vergangenen Zeiten und auch nicht nur in der Literatur, begegnen einem fürchterliche Frauenbilder und diskriminiertes Frauenleben.

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  3. Sind wir in unserem Denken und Handeln darüber hinweg? Nun, die Pille hat das ihre getan, die zentrale Sorge – ein Kind! – wurde reduziert und eine sogenannte sexuelle Revolution (hm, naja) war möglich. Mit einem zentralen Punkt, der sich um die Pille dreht: Verhütung ist Frauensache. Wo nicht, so ist sie eben bald alleinerziehend. Und hier müssen wir uns nur einmal umsehen. Wie geht es den meisten Müttern, selbst denen in Partnerschaften? Sie haben in der Regel aufgrund ihrer Familienarbeit weniger Einkommen, weniger bis gar keine Rente… (und häufig immer noch sehr viel schlechtere Ausbildungen).
    Im Grunde hat sich so viel gar nicht geändert. Allenfalls ein bißchen Sex ist erlaubt. Schön. Aber die Verantwortung ist und bleibt ungleich verteilt, woran natürlich die biologischen Voraussetzungen nicht ganz unbeteiligt sind. Eine werdende Mutter, beispielsweise im 7. Monat, kann sich nicht einfach unauffälig verkrümeln.
    Zusätzlich kommt noch der allgemein zu sehende, stellenweise extreme erzkonservative Pendelrückschlag, den wir erleben. Ich erinnere eine Karikatur, für die wir nicht bis nach Amerika oder Rußland müssen und auch nicht in den arabischen Raum. Ein hagerer Mann hielt ein Schild hoch, auf dem stand: „Frauen für Merz an den Herd!“ Und ein Hinzukommender riet: „Ich würd die letzten drei Worte weglassen.“
    Ja, aber warum? Offenbar trifft das den Nerv der neuen alten Zeit.

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