Wenn man nur sehr wenig Zeit in Berlin zur Verfügung hat, sollte man wohl einen Plan haben und ein Besuchsprogramm aufstellen? Nun, ich liebe „Blind dates“ und ziehe am liebsten auf gut Glück los, zumal die Fülle des Angebots sowieso keine vernünftige Vorauswahl gestattet. Verabredet war einzig das Treffen in Susannes Atelier, den Rest beschlossen wir beiden – Mutter und Sohn – ad hoc.
Und so machen wir uns am Samstag auf die Socken, um zu sehen, was das herbstliche Berlin uns noch zu bieten hat.
Wir einigen uns schnell auf den Besuch eines Wochenmarktes in Schöneberg. Zuerst gehts zur U-Bahn am Adenauerplatz, wo der Alte, unbeeindruckt von den treibenden Blättern, seines Wegs geht. Die Künstlerin Helga Tiemann schuf die lebensgroße Bronzeskulptur 2005 nach einem Foto vom September 1949: Adenauer verlässt den Sitz der Alliierten Hohen Kommission und missachtet geflissentlich das Verbot, den Teppich nicht zu betreten, der den Besatzern vorbehalten war.
Klein und zierlich, lässig wirkt er, wie er da mit wehendem Mantel, den Hut in der Hand im Blattgetümmel ausschreitet. Sein Gesichtsausdruck ist schwer zu entziffern. Dieser Politiker war es ja, der die Zeit, in der ich aufwuchs, prägte („Adenauerzeit“, „bleierne Jahre“), und sehr zwiespältig blickte ich damals auf seine Regierungsmannschaft und -entscheidungen. Heute, nach so vielen Jahren, versuche ich mir vorzustellen, wie sich das deutsche Nachkriegsschicksal ohne diesen rheinischen Fuchs wohl gestaltet hätte?
Später dann – wir sind nun in Schöneberg-Nord – kommen wir an einem weit weniger zierlichen Gebilde vorbei: Wie ein gewaltiger Riegel erhebt sich eine Fensterfront, in die ein schwerer Klotz eingelassen ist: Offenbar ein Bunker. Die Straße führt unter dem Massenquartier hindurch.
Das Gebäude wurde großspurig „Pallasseum“ getauft – ein Name, der Assoziationen an Pallas Athene hervorrufen könnte. Oder doch eher an Palast? Richtig! Die Wohnmaschine (514 Wohnungen und 16 Gewerbeeinheiten) wurde 1973 nach Plänen des Berliner Architekten Professor Jürgen Sawade dort gebaut, wo einst der berühmt-berüchtigte Sportpalast* stand. Im Volksmund hieß das Gebäude spöttisch „Sozialpalast“. Die brutale Architektur des Massenquartiers – etwa 2000 Menschen leben hier – hat die Berliner lange erregt, es gab heftige Kontroversen: die einen forderten den ersatzlosen Abriss, die anderen bemühten sich, schließlich erfolgreich, um den Status eines denkmalgeschützten Gebäudes. Verwaltet wird es neuerdings durch die kommunale Geobag, bewohnt vor allem von Menschen mit migrantischem Hintergrund. So las ich in diversen Einträgen im Internet. Der Bunker, der durch die Wohnanlage überbaut wurde, weil er sich nicht sprengen ließ, wird heute als „Ort der Erinnerung“ an die Zwangsarbeiter, die ihn errichteten, ausgewiesen. Wenn die Berliner Politiker so weitermachen, wird man sich noch gratulieren, dass er nicht gesprngt wurde.
Wie auch immer: wir sind ja auf dem Weg zum Wochenmarkt am Winterfeldtplatz und kommen auch gut an. Sehr wohl fühle ich mich hier zwischen lauter liebenswürdigen Kleinstproduzenten. Fast schon vorweihnachtlich ist die Stimmung. Was immer das Herz begehrt, um sich an einem kalten trüben Novembertag zu wärmen, ist im Angebot.
Statt südländischer Genüsse verabreichen wir uns Brötchen mit Matjeshering. Das muss einfach mal sein. 
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*Zur Geschichte des Sportpalastes, der 1910 nach Plänen von Hermann Dernburg erbaut und 1973 abgerissen wurde, um der Wohnmaschine des Pallasseums Platz zu machen: Bei seiner Eröffnung am 17. November 1910 galt der Palast als architektonische Sensation: die größte gedeckte künstliche Eisbahn weltweit, ein Hallenbau ohne tragende Säulen, fantasmagorische Illumination, schwärmten die Medien. Bis zu 10 000 Besucher hatten Platz! Richard Strauß dirigierte bei der Eröffnung höchstpersönlich Beethovens Neunte. Eislauf wurde zur großen Berliner Attraktion. Doch wie sollte sich der Betrieb tragen? Er trug sich nicht, der erste Betreiber machte schon bald Pleite. Ein ungenannter Mäzen rettete die Unternehmung. Seither wechselten die Besitzer des öfteren, u.a. gehörte der Sportpalast von 1928-1934 dem Spekulanten, Autohändler und Großaktionär von Daimler-Benz Jacob Shapiro aus Odessa, bis er von Schweizer Finanzierungsgesellschaften zwangsversteigert wurde.
In den 20er Jahren dann der Boom: Eishockey, Boxkämpfe, Hallenreiten, Radsport (Sechstagerennen) – das Volk bezahlte auf dem Schwarzmarkt Rekordpreise, um einen Platz zu ergattern. Auch für Politiker wurde der Sportpalast zur beliebten Bühne: Brüning (Zentrum), Thälmann (KPD), Wilhelm Pieck (KPD, 1933), Goebbels, Hitler (ab 1928), Eiserne Front (SPD), Reinhold Krause (Deutsche Christen, neuheidnisch, 1933) wechselten sich ab, bis die NSDAP, die dort um die Ecke ihr Parteibüro hatte, endgültig die Oberhand gewann. Hier hielt Goebbels seine berüchtigte Wollt-ihr-den-totalen-Krieg-Rede (19.2.1943). Auch Hitler hielt hier am 30. Januar 1942, dem 9. Jahrestag der Machtergreifung, eine vielbeachtete Rede. Zwei Jahre später, an einem anderen 30. Januar, bombten die Allierten den Palast kurz und klein.
War das nun das Ende des Sportpalastes? Nein. Denn gleich nach dem Krieg gings weiter: Jazz-Größen wie Louis Armstrong, Duke Ellington, Benny Goodman, Ella Fritzgerald traten hier ebenso auf wie die Berliner Philarmoniker, Opernstars aus aller Welt, Ballette und Chöre. Die Auftritte von Johnnie Ray, Bill Haley und Frank Zappa wurden von Krawallen begleitet.
1973 – Berlin sah sich nicht mehr imstande, ihn zu subventionieren – wurde der Palast verkauft und abgerissen. An seiner Stelle entstand der „Sozialpalast“, genannt Pallasseum.




Die Nachkriegspolitiker haben sich, geläutert durch den Fall der Weimarer Republik, wenigstens nicht im Klein-Klein-Untereinander-Krieg verzettelt, und gewusst, wie man sich wieder zusammenläuft, und was das gemeinsame Ziel ist.
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so sieht es wohl im Nachhinein aus.
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