Dies ist meine dritte abc-etüde mit den von Christiane aktuell gespendeten Wörtern Fingerhut – fluchen – süßlich. Genaueres über diese Art von Etüden findest du hier.
Digitalis purpurea (Foto Wikipedia)
„Im analogen Leben“ – lese ich bisweilen in Blogs.
Während meiner Studienzeit (Computer waren noch nicht erfunden) stieß ich erstmals auf die Unterscheidung digital – analog, und zwar bei Paul Watzlawick: Jede Kommunikation finde gleichzeitig auf zwei Ebenen statt. Wenn die Mutter zum Kind sagt „Komm her!“ oder „Wasch dir die Hände!“, fordert sie etwas durch Sprache Definiertes. Das ist die digitale Ebene. Doch welche Körperhaltung, welchen Tonfall hat sie dabei? Welche Gesten, welcher Gesichtsausdruck begleitet ihre Rede? Das Kind erlebt diese „analoge“ Ebene unmittelbar. Alles kommt darauf an, sie richtig zu deuten. Spricht Mama süßlich: „Komm her“, weil sie mich lieb hat? Oder meint sie eigentlich: „Komm mir ja nicht zu nahe?“ Und wenn ich die Hände nicht wasche – was wird passieren?
Inzwischen ist Digitalisierung allüberall. Gemeint ist nicht mehr die Sprache als solche, sondern ihre Übersetzung in elektrische Impulse und die Kommunikation mit elektronischen Mitteln.
Das, was in meinem Kopf ist und meine Finger in die Tasten tippen, wird in elektrische Impulse verwandelt. Die Vielfalt des Lebens wird zu einer Reihe von nur zwei Zeichen: positiv und negativ. Wenn dein Computer diese Zeichen in Buchstaben, Wörter, Sätze rückübersetzt, erreicht dich zwar die digitale Ebene meiner Äußerungen, nicht aber die analoge. Weißt du etwa, ob ich an dieser Stelle glücklich lächle oder fluche, weil mir keine passenden Wendungen einfallen? Mit Emojis – diesem analogen Ersatz – kann ich dir auf die Sprünge helfen – oder auch dich täuschen.
Digitalisieren ist fast so, als ob du ein Blatt vom Fingerhut, der auch Digitalis heißt, gegessen hast. Dein Herzschlag verlangsamt sich, ticktackticktack, +-+—+–+— Eben stand die schöne Pflanze noch da, du bewundertest ihre purpurnen Blüten, strecktest verlangend die Hand aus. Nun aber vergehst du. Sie hat dich in eine Reihe von Daten übersetzt, 011000011010000011111* rattert sie vor sich hin und am Ende steht: 0 oder 1, Leben oder Tod.
299 Wörter
*Ich habe Christianes Hinweis (s. Kommentar) bezüglich der Notierung aufgegriffen und anstelle plus-minus nun 0-1 eingesetzt. Ich denke aber, es ist tatsächlich nur eine Frage der Notierung und nicht der Substanz, denn es handelt sich darum, Daten im bipolaren System des Stromkreislaufs abzubilden. Wer es besser weiß, bitte korrigieren.

Interessant, das mit Watzlawick, in der Bedeutung kenne ich das nicht, ich bin wohl erst zu Computerzeiten in die Begrifflichkeiten eingestiegen. Aber: Würdest du digitalisiert, würdest du auf die binäre Ebene übersetzt, das ist nicht + und -, das ist 0 und 1. So weit sich Computer auch davon entfernt haben, am Ende ist immer noch alles 0 oder 1, aus oder an – und nichts dazwischen, was übrigens der Punkt ist, wo ich bei dir am ehesten mit Widerspruch gerechnet hätte: Nieder mit der Dualität! 😎
Danke für die Etüde!
Frühabendgrüße 🌤️🌿🎶🍵🍪
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Danke, Christiane. Ich weiß wohl, dass die Impulse als O und 1 notiert werden. Ich meinte, das binäre System sei wegen der Polarität des Stroms eingeführt worden. Jeder Impuls ist entweder plus oder minus. Ich lasse mich aber gern belehren. Egal wie die Notierung ist – auf jeden Fall ist die Sprache der Elektronik dual, entweder-oder, ja-nein, on-off, Leben-Tod. Das ist eine enorme Verflachung der komplexen Wirklichkeit, die freilich nötig ist, um Datenmassen rasend schnell zu inscribieren, hin und her zu transportieren und zu decodieren.
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In dem Sinne, wie von Dir beschrieben, müsste es eigentlich ja schon seit Urzeiten gewesen sein, d.h. seit den Keilschriften, Runen, Steinzeit-Memes und den heimlich auf Zettel geschriebenen Liebesbezeugungen oder den gedruckten Büchern: alles analoger Ersatz.
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digitaler Ersatz. Ja, so kann man es sehen. Das Digitale – also die Schriftzeichen, abgeleitet von english digit, Zeichen – ist die lesbare message. Bei einem Liebesgedicht kann der Absender, außer Wörtern noch anderes mitschicken, vielleicht einen Duft, den Abdruck der Lippen, eine Blume. Aber er ist auf darauf angewiesen, dass die/der Geliebte in sich das volle Bild des Absenders erzeugt. Sonst sind es eben nur geschriebene Worte, die auch nichts bedeuten können. Ganz anders, wenn die Liebenden sich gegenüber stehen, sich anfassen, sich küssen. Da werden die Sinne direkt angesprochen. Das ist dann die analoge Ebene.
Vor der elektronischen Zeit war jedenfalls das Medium noch greifbar. Die Empfängerin der Liebesbotschaft konnte das Brieflein anfassen, sich in die Bluse stecken und das Papier (den Stein, die Wachstafel) als Ersatz für den abwesenden Geliebten küssen. Heute, bei elektronischen Botschaften, ist selbst das nicht mehr möglich.
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Da hast wohl Recht, früher war mehr Lametta.
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Der Unterschied zwischen digital und analog, so wie er heute verstanden wird, bezieht sich nicht auf das Medium der Übertragung von Information. Verbale oder nonverbales Kommunikation, elektrische oder händische Information lässt sich analog übertragen, wenn nämlich ein theoretisch unendliches Kontinuum der Informationswerte gegeben ist. Im Unterschied zum diskreten, nichtkontinuierlichen Wesen digitaler Information. Nimm eine Schallwelle, die sich in der Luft ausbreitet. Ein Kontinuum von sich stetig wandelnden Werten. Wird der Schall hingegen digital aufgezeichnet – digitale Information muss übrigens nicht elektrisch vorliegen, siehe die Lochkarte – wird eine optisch darstellbare (Sinus)-Kurve in Treppenstufen umgewandelt. Zugrunde liegen eben nur diskrete Werte, die letztlich auf 0 oder 1, on oder off, hinauslaufen. Strom hingegen ist ein analoges Medium, er fließt in kontinierlich veränderbaren Werten, wie Wasser zum Beispiel. DassComputer ohne Strom nicht betrieben werden können, macht sie alleine noch nicht zu digitalen Geräten. Ein Staubsauger etwa funktioniert auch rein analog. Digitale und analoge Informationsübermittlung laufen letztlich in dem Punkt zusammen, wo das menschliche Sensorium zur Wahrnehmung diskreter Schritte nicht mehr fein genug ist. Die Wandlung analoger Schwingungen in digitale Information und von dort wieder zurück in analoge Schallwellen lässt sich bei Verwenung guter Technik mit dem menschlichen Ohr nicht erkennen. Man kann, gute Geräte vorausgesetzt, schlicht nicht zwischen CD und Schallplatte unterscheiden. Im Grunde ist auch unser Gehirn ein digitales Organ. Alle neuronalen Prozesse dort basieren auf Neuronen, die nur zwei Zustände (Informationswerte) kennen: feuern oder nicht feuern. Erst die schier unbegreifliche Fülle an Vorgängen bewirkt in ihrer Gesamtheit all das, wozu wir unser Gehirn benötigen. Für mich ein typisches Beispiel des Umschlagens von Quantität in Qualität.
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Ganz herzlichen Dank für deinen schwergewichtigen Kommentar, lieber Herr Dilettant. Den muss ich nun erstmal verdauen (versuchen zu verstehen und Schlussfolgerungen für mein Thema daraus ziehen). Der Angelpunkt scheint mir diese Unterscheidung zwischen dem „diskreten, nichtkontinuierlichen Wesen digitaler Information“ und „einem (theoretisch) unendlichen Kontinuum der Informationswerte“ zu sein. Wenn ich das ganz verstehe, bin ich ein Stück weiter.
„Digitale und analoge Informationsübermittlung laufen letztlich in dem Punkt zusammen, wo das menschliche Sensorium zur Wahrnehmung diskreter Schritte nicht mehr fein genug ist.“ Darin steckt, denke ich, der entscheidende Frage: bleibt der Unterschied zwischen kontinuierlichem (natürlichem) und nicht kontinuierlichem (digitalem) Wesen der Information bestehen, auch wenn unsere Sinne das nicht mehr wahrnehmen können? Gibt es einen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Lebendigem und dem Maschinellen?
Etwas ungeschickt ausgedrückt: Schlägt irgendwann die Quantität der künstlich generierten Information in die Qualität des Lebens um? Wird der Computer (der Roboter) so perfektioniert, dass wir ihn nicht mehr von einem Lebewesen unterscheiden können?
Das will ich nicht glauben. Für mich gleicht das in etwa der Frage, die man Kindern stellt, wenn man ihnen zwei winzige gleich geformte Dinge zeigt: das eine ist ein Samen, das andere besteht aus Plastik. Sie können die beiden nicht unterscheinden, wenn sie sie anschauen, betasten, schmecken, riechen. Aber wenn sie die beiden in ein Pflanztöpfchen mit Erde stecken, wird das eine keimen, das andere nicht.
Und so wird das Baby immer die wirkliche Mutter von der noch so gut nachgeahmten Robotermutter unterscheiden. Ich weiß, dass diese Ansicht eher Wunsch als nachweisbare Wirklichkeit ist.
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Das sind genau die spannenden Fragen, die ich mir auch stelle! Und du bist so ehrlich zu schreiben: „das will ich nicht glauben“, Betonung auf: will. Die Vorstellung, etwas könne nicht sein, weil es nicht sein darf, ist weit verbreitet, und das macht auch Sinn. Schließlich muss jeder/jede von uns am Ende des Tages mit den eigenen Möglichkeiten der Wahrnehmung klarkommen. Und was nützte mir eine Wahrheit, wenn sie mich zur Verzweiflung brächte? Wir bewegen uns da in einem Spannungsfeld. Leider tendiert global gesehen momentan die Waagschale zu sehr zu: egal-ob-es-stimmt-Hauptsache-mir-gefällts (Verschwörungserzählungen, fake news etc.). Gut also wäre eine selbstkritische Bereitschaft, sich einzulassen, bei gleichzeitig gegebener robuster Selbstbehauptung eigener Bedürfnisse.
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Lieber Herr Dilettant, ja, ich WILL es nicht glauben, und dafür habe ich gute Gründe nicht nur voluntaristischer Art. Das angeführte Beispiel mit dem Samen zeigt die Richtung an. Natürlich kann ich nicht WISSEN, wohin sich die manische Suche des Menschen nach Schaffung von Leben aus dem Toten noch verirren wird. Vom „Baum des Lebens“ will er essen, ohne sittliche Reife erlangt zu haben. Wenn es aus Liebe zum Leben geschähe, würde es noch angehen. Doch leider ist das Gegenteil der Fall, es geht um die Zerstörung und Ersetzung des Lebens nach Lust und Laune. Und so WILL ich nicht glauben, dass es ihm gelingt. Ich WILL, dass er scheitert.
Den Rattenschwanz von Unterstellungen (Verschwörungstrallala) hätten Sie sich gern sparen dürfen. Aber es scheint ja so, als hätten Sie sich zur Aufgabe gesetzt, den offiziellen Erzählungen Breschen zu schlagen, dort wo sich Gestrüpp von „Fake News“ aka Widerspruch ansiedelt.
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Ich bitte doch um Genauigkeit in der Wortwahl. Ich habe Bezug genommen auf das Vorhandensein von Verschwörungstheorien in der (nicht nur gegenwärtigen) Welt. Wo ist hier die mir vorgeworfene Unterstellung, gar ein „Rattenschwanz von“? Auch die Existenz von „fake news“ ist ein Fakt, keine Unterstellung. Vielleicht fühlten Sie sich angegriffen und bezogen beides auf Ihre Positionen, das steht aber nicht in meinem Text.
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richtig. Ich habe es auf mich bezogen, da der Kommentar an mich gerichtet war. Der Rattenschwanz ist das „gut also wäre, wenn…selbstkritisch …“ Ich bitte, meine Empfindlichkeit zu verstehen, denn es geschieht ja nicht zum ersten Mal. Ich bin tatsächlich äußert besorgt über den Weg, den die menschliche Erfindungskraft eingeschlagen hat, es fehlt mir wohl die „Robustheit“, um dem mit gebotener Seelenruhe zuzuschauen. Um Selbstbehauptung und eigene Bedürfnisse geht es mir nicht.
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Ich kannte das Beispiel von Watzlawik auch nicht. Interessanter Ansatz.
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