
Dies ist ein Beitrag zu Myriades Impulswerkstatt, 4. Bild.
Von all deinen diesmaligen Bildern, liebe Myriade, ist dieses das rätselhafteste. Es tyrannisiert mich. Ich versuche es zu fassen, aber es entzieht sich. Mein Gedanke: da wird ein hoch kompliziertes Hufeisen konstruiert, aber der Konstrukteur kommt irgendwie nicht zurande mit seiner Arbeit. Denn gleichzeitig mit der Konstruktion läuft ein Prozess der Dekonstruktion. Drum geht es nicht vorwärts, und zurück gehts auch nicht. Alles bleibt in der Schwebe. Die beiden Prozesse haben sich so sehr ineinander vertütelt, dass der Konstrukteur das Weite gesucht hat. Oder, um mit Morgenstern zu reden:
Der Architekt indes entfloh
nach Afri- od Ameriko.*
Konstruktion ist ein klarer Begriff: Nimm Materialien und mach was Neues draus. Konstruiere dir eine neue Welt, zum Beispiel einen Rundbogen wie auf dem Bild. Destruktion ist auch einfach zu beschreiben: Mach kaputt, was du gebaut hast, reiß es ein.
Aber Dekonstruktion?
Erfunden hat den Begriff – bzw die Methode – der französische Philosoph Jacques Derrida. Wer Lust hat, lese den Artikel zu seinem Leben und Werk nach. Ich bin weit davon entfernt, voll zu begreifen, was es mit dieser Methode auf sich hat, aber soviel habe ich doch verstanden:
Alles irgendwie in Erscheinung Tretende wird als „Text“ behandelt.
Der Dekonstruktivist sucht im „Text“ (zB geschichtliches Ereignis, Kunstwerk, Lebenslauf, was auch immer) nach Gegensätzen, nicht um sie aufzulösen oder um zu einer die Gegensätze in sich aufnehmenden Synthese zu gelangen (wie in der Hermeneutik), sondern er prägt einen Terminus, der einen „geschichtlich gefestigten Gegensatz in Bewegung versetzt bzw. seine ihm immer schon innewohnende Bewegung verständlich macht“. (Zitat nach Wikipedia-Artikel Dekonstruktion). Ein solcher Gegensatz wäre zum Beispiel Leben und Tod. Kann man daran zweifeln, dass jemand entweder lebt oder tot ist? Jeder meint doch zu wissen, was mit Leben und Tod gemeint ist und dass es sich um einen Gegensatz handelt, den man nicht hinterfragt. Unsere moderne Medizin ruht auf diesem „festen Fundament“: Wer tot ist, lebt nicht, und wer lebt, ist nicht tot.
Und doch: auch dieser Gegensatz hat diese Bedeutung nur im Text, in dem wir ihm gerade hier und jetzt begegnen (im aufgeklärten, naturwissenschaftlich orientierten Westen). Auch dieser Gegensatz hat eine Geschichte, und die ist nicht gradläufig, sondern kommt und geht, verändert sich, überlagert sich, nicht unähnlich dem merkwürdigen Bogen auf deinem Foto, liebe Myriade.
Wenn ich nämlich den Gegensatz Leben-Tod „dekonstruiere“, komme ich zum Begriff „Untoter“, Zombie, vielleicht auch Gespenst, Dämon, Geisterscheinung. Oder auch zum Begriff „Reinkarnation“. Oder zum Begriff „Der Geist der Ahnen“. Oder zum Begriff „Schatten“, denen Odysseus am Ausgang der Unterwelt begegnet, denn sie kommen herbeigeeilt, um sich am Opferblut zu laben und sich zu erinnern…
Jeder dieser Begriffe (Gespenst, Zombie, Reinkarnation etc) hat seine Geschichte, wurde zu bestimmten Zeiten geprägt und zur Geltung gebracht. Und jeder dieser Begriffe kann jederzeit wieder auftauchen (und tut das auch ständig), in neuem Gewand, neu definiert, mit veränderter Wirkung, um später wieder abzutauchen.
Leben-Tod ist im „aufgeklärten Westen“ ein so gut etablierter Gegensatz, dass man leicht vergisst, dass es nicht immer so war und nicht überall und allezeit so ist. Unsere „Selbstverständlichkeit“ ist selbstverständlich nur im gegebenen historischen oder auch regionalen, psychischen, literarischen, künstlerischen … Text. Schaut man in einen anderen Text, gibt es ihn womöglich gar nicht.
Nimm ein anderes Beispiel, etwa Freier-Sklave, Demokratie-Diktatur, Rechts-Links, Mann-Frau … Und versuch für dich, diesen Gegensatz zu dekonstruieren….
Danke, liebe Myriade, für den Impuls, den du mit deinem Foto gesetzt hast.
*Christian Morgenstern, Der Lattenzaun.
Puh, Derrida ist schon harte Kost. Er wurde auch von vielen heftig kritisiert und es wurde ihm vorgeworfen, dass er sich bewusst unverständlich ausdrückt. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Richtung, die du einschlägst der Intention entspricht. Aber wie dem auch sei, so hast du doch einen sehr interessanten Beitrag geschrieben, dessen Idee des Auflösens von Gegensätzen in verschiedene Bereiche führen kann, nicht nur in philosophische sondern auch in physikalische.
Ich habe wegen diesem Bild ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht dokumentiert habe, von wem es ist und ich das daher hier auch nicht dazuschreiben kann.
Und diesmal kopiere ich meinen Beitrag, damit ich nicht immer alles dreimal schreiben muss wenn das Kommentieren – wie in letzter Zeit fast immer – nicht funktioniert 🙂
Jedenfalls herzlichen Dank für deine intensive Beschäftigung mit den Impulsen und die spannenden Gedankengänge, die dabei immer herauskommen.
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Ich habe gleich mal im Spam nachgeschaut: und richtig, ich wurde fündig. Was Derrida betrifft: Ich bin mir auch nicht sicher, denn seine Sprache ist fast noch schlimmer als die von Heidegger, auf den er sich bezieht. Und dennoch hat mir das Nachlesen ein paar Ideen gegeben, die ich versuchte darzulegen. Bisschen sperrig, das Ganze, aber das liegt am Bild, behaupte ich mal 😉
Irgendwann wirst du uns doch was über das Bild sagen, oder?
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Sperrig finde ich Derrida auch, freundlich ausgedrückt 😉
Ich kann über das Bild leider gar nichts sagen. Ich habe es irgendwo, irgendwann fotografiert, in einem Museum, einer Galerie, einer Auslage weil ich nun mal eine große Vorliebe für Tore jeder Art habe
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Ich höre auf, weiterzulesen, da sich mein Gehirn zu „verknoten“ beginnt. „Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?“
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Dabei hast Du Dich bemüht, Kompliziertes aufzulösen, Gerda.
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Ja, das stimmt, ich habe sehr vereinfacht. Die Original-Texte von Derrida würde ich niemandem zumuten.
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Was Du nicht Kompliziertes alles durchzuarbeiten versuchst, Gerda. Das ist sicher geistige Schwerarbeit.🙏♥️
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Ich kannte nicht mal den Namen Derrida. Den Namen Heidegger aber sehr wohl *g*
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Der eine ist halt Deutscher, und ein „umstrittener“ dazu, drum ist er in Deutschland sehr bekannt, obgleich kaum jemand ihn versteht. Derrida ist französisch-jüdischer Phhilosoph, in Algerien beheimatet, in Frankreich dann sehr erfolgreich, lehrte an den Eliteschulen.
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Ich finde das Bild tatsächlich ähnlich beängstigend wie Munks „Der Schrei“. Es hat so etwas Grobes, Brutales…
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Du bist sehr sensibel, liebe Marion, und nimmst Vibrationen auf, die andere kaum beachten.
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