Webkunst (kleine Beobachtungen)

Mich umgeben eine Menge Gewebe, und selten mache ich mir Gedanken darüber, wer die Muster wohl entwickelt, wer sie dann wie umgesetzt hat. Die KünstlerInnen sind namenlos, die ArbeiterInnen an ihren inzwischen sicher weitgehend automatisierten Webstühlen sowieso. 

Zum Beispiel meine schon etwas in die Jahre gekommene Umhängetasche mit dem Eulenmuster, die sicher zu zigtausenden Exemplaren im Umlauf ist.

 

Einst war das Weben eine göttliche Kunst, die die Menschen zu immer größerer Perfektion entwickelten. Eine Meisterweberin war Arachne, die zu ihrem Unglück nicht wahrhaben wollte, dass sie trotz ihrer großartigen Kunstfertigkeit der göttlichen Lehrerin, Pallas Athene, Respekt und Dankbarkeit schuldete. Für ihre Hybris wurde sie von Athene bestraft und in eine Spinne verwandelt. 

Arachne war, wie wir bei Ovid lesen können (Metamorphosen,  hier), eine einfache Frau „aus dem Volke“

…. Die, wie sie (Athene) hatte gehört, an Lob in der Wollebereitung
Nicht nachstand ihr selbst. Nicht Ort, noch edele Herkunft,
Kunst nur brachte ihr Ruhm. Ihr Vater, aus Kolophon Idmon,
Tauchte die saugende Woll‘ in den Saft phokaiischer Schnecken.

Tot war die Mutter bereits, doch die auch war aus dem Volke
Und mit dem Mann ganz gleich. Doch rings in den lydischen Städten
Hatte sich jene durch Fleiß denkwürdigen Namen erworben,
Ob auch niedrer Geburt sie bewohnte das kleine Hypaipa.
Oftmals, dort zu besehn die bewunderungswürdige Arbeit,

Kamen die Nymphen herzu von den Weinhöhn ihres Timolos,
Kamen, entstiegen dem Fluss, herzu die paktolischen Nymphen,
Und nicht sahen sie bloß mit Ergötzen die fertigen Zeuge,
Auch die Fertigung selbst – es paarte Geschick sich mit Anmut –
Wenn zum Ballen zuerst sie vereinte die gröbere Wolle,

Wenn mit den Fingern den Stoff sie schlichtete oder geschmeidig
Machte mit häufigem Strich dem Nebel vergleichbare Flocken
Oder mit gleitendem Daumen umschwang die gerundete Spindel
Oder wenn stickend sie saß; sie lernte, so schien es, von Pallas.
Doch sie leugnet‘ erzürnt, dass Meisterin wäre die Göttin….

Wenn ich barfuß über den schönen wollenen Webteppich gehe, der den Holzboden unseres Wohnbereichs bedeckt, fühle ich mich an diese stolze Frau „von niedrer Geburt“ erinnert…

und fühle große Bewunderung nicht nur für sie, sondern für alle ihre Nachfahrerinnen, die immer noch Muster um Muster ersinnen.

Heute drehte ich die Ecke des Teppichs um, um nach den Daten zu schauen:

Es ist ein griechischer Webteppich aus 100% Wolle, bestehend aus 580 000 „Punkten“ pro m2. Ehrlich gesagt fehlt mir die Vorstellungskraft, um mir den Vorgang von der Entwurfszeichnung bis hin zum Endprodukt lebendig vor Augen zu stellen. …

Denoch versuche ich es. Und je mehr ich es versuche, desto größer wird mein Erstaunen, und ich verneige mich vor den anonymen KünstlerInnen und ArbeiterInnen, aber auch vor den Schafhirten, Ingenieuren, Fachkräften jeder Art und vor dem Unternehmungsgeist, die beitrugen zu diesem Werk, das ich täglich mit meinen Füßen begehe und das mir täglich Freude bereitet.

Erstaunlich ist das Werk der Spinne – aber nicht minder erstaunlich ist das Werk der Menschen, die aus nichts als Beobachtung, Geist und Vorstellungskraft, Geduld, Zusammenarbeit und Experiment die Webkunst über die Jahrtausende zu großer Perfektion entwickelten. 

 

Avatar von Unbekannt

About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, alte Kulturen, Dichtung, Fotografie, Geschichte, kleine Beobachtungen, Kunst, Leben, Materialien, Mythologie, Natur, Technik abgelegt und mit , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

11 Responses to Webkunst (kleine Beobachtungen)

  1. Avatar von Myriade Myriade sagt:

    Oh ja, Weben ist eindeutig eine Kunst. Sie ist in der Menschheitsgeschichte ja wahrscheinlich noch vor dem Töpfern erfunden worden. Leider werden diese wunderschönen fein geknüpften Teppiche aber oft von kleinen, geschickten Kinderfingern hergestellt

    Like

  2. Avatar von Holger Holger sagt:

    Diese Spinnerin Arachne hatte Athene erzürnt. Sie war besser als Athene, dennoch ist Athene komplett ausgerastet. Warum? Darüber wird heute viel spekuliert -> https://www.mythologie-antike.com/t171-arachne-mythologie-spinnerei-meisterin-schliesslich-von-athene-in-eine-spinne-verwandelt

    Like

  3. Avatar von Gazelle3 afrikafrau sagt:

    Textilkunst, Webkunst verdient Beachtung. Wunderbare Stücke von Hand gefertigt finden sich heute nur noch selten. In vielen Ländern wird diese Kunst noch gepflegt.
    Bei uns gerät sie zusehends in Vergessenheit. Auf Messen gab es immer wieder solche
    „Ausnahme Stücke“ wenn man ein Auge dafür hatte. Heute nur noch in entlegenen Gebieten. Warenkunde , Herstellungsprozesse dem Kommerz unterworfen. Für mich oft Inspiration auch für Zeichnungen oder Bilder. Danke für deine Aufmerksamkeit .

    Gefällt 1 Person

    • Avatar von Unbekannt Gerda sagt:

      Danke für deine ergänzenden Bemerkungen, liebe Afrikafrau. Sie lagen auch mir auf der Zunge, doch wollte ich den Niedergang der Handwerke nicht thematisieren, um im Positiven zu bleiben. Darum bemühe ich mich in diesen „kleinen Beobachtungen“ und „Lustbarkeiten“. Mir ist bewusst, dass all das Schöne, das der Höhepunkt der Handwerkskunst längst hinter uns liegt und wir nur noch einen schwachen Abglanz davon haben.

      Like

  4. Ja, ein wunderbares Handwerk!

    Like

  5. Auf jeden Fall sind dies wunderschöne Webkunstwerke. Und wer so etwas mit Fleiß und Liebe zur Sache erlernte und großes Können darin entfaltete, – warum sollte der/die nicht auch „dem Himmel“ dafür dankbar sein, der ja dabei hilfreich zur Seite stand?
    Ich glaube, solche „Rachegelüste“ gibt es bei „Gottheiten“ nicht. Es wurde nur von Menschen hineingedeutet.

    Like

  6. Eine Kunst, die viel Geduld und Fingerfertigkeit erfordert, ein künstlerisches Auge auch und am Ende ist ein Kunstwerk entstanden, das wir später mit Füßen treten 🙂
    Aber wir treten genußvoll und wissen, es ist keine Selbstverständlichkeit, daß wir so schön weich treten können.

    Like

Hinterlasse eine Antwort zu Bruni | Wortbehagen Antwort abbrechen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..