Mit dem Strohhut (tägliches Zeichnen und „Die Braut aus Odessa“)

Von meinem gegenwärtigen Stammplatz auf dem Sofa aus machte ich eine Skizze von Strohhut und Kleidung, die ich nach dem morgendlichen Schwimmen dort deponiert hatte.

Den Winzlingsblock legte ich auf den Band mit Kurzgeschichten des argentischen russisch-stämmigen, in Paris lebenden Schriftstellers Edgardo Cozarinsky, den mein Sohn mitbrachte und gerade ausgelesen hat. Ich las die Titelgeschichte und empfand, dass meine kleine Zeichnung recht gut zum leichten Erzählstil des Autors und zur unbekannten Hutmacher-Gehilfin der Erzählung passt.

Es ist eine eigenartige Geschichte, beginnend am Ende des 19. Jahrhunderts: Ein junger Mann, der (wie wohl auch die Eltern des Autors) im Schtetl von Kiev aufwuchs, will nach Argentinien auswandern. Er hat auch richtig Odessa erreicht und wartet nun darauf, das Auswanderungsschiff zu besteigen. Er ist traurig, denn seine ihm ein paar Tage zuvor angetraute Ehefrau namens Rifka Bronfmann fürchtete sich vor dem argentinischen Abenteuer und weigerte sich, mit ihm zu gehen.

Eine junge Frau interessiert sich ebenfalls für das Schiff. Sie ist Christin, „Schikse“ bei jüdischen Hutmacherinnen in Odessa, arm und verdrossen. Die beiden kommen ins Gespräch, der junge Mann erzählt von seinen Umständen – was er sich von der Auswanderung verspricht und dass seine Ehefrau, für die er alle Papiere besorgte, nicht mitkommen wollte -, und die junge Unbekannte beschließt spontan, in die Rolle der Ehefrau zu schlüpfen. Weiteres erfährt man nicht, außer dass sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Buonos Aires bei der Geburt des 10. Kindes stirbt.

Ein Jahrhundert danach erhält ein Urenkel, der in einem Pariser Krankenhaus auf das Ergebnis einer Biopsie wartet, einen Brief, in dem eine argentinische Großtante ihm dieses Familiengeheimnis anvertraut. Er erkennt, dass er und all seine inzwischen verschollenen Cousinen und Cousins nach jüdischem Recht gar keine Juden sind (denn die tatsächliche Urmutter, die „Braut aus Odessa“, war ja Christin).

An diese humorvoll erzählte Geschichte schließen sich schwere Gedanken des womöglich sterbenskranken Urenkels in der Pariser Charite an.

„Er war zu müde, um sich selbst zu bemitleiden. Sein Gefühl richtete sich auf eine Person ohne Gesicht, auf diese Rifka Bronfmann, die echte, die die illusorische Sicherheit ihrer Familie und ihrer Freunde vorgezogen hatte. Wenn sie 1890 in den Zwanzigern war, dann musste sie 1941 um die sechzig gewesen sein …. War sie in Babi Yar umgekommen? Wenn sie die deutsche Invasion noch erlebt hat, die von den meisten Ukrainern wie eine Befreiung vom sowjetischen Joch begrüßt wurde, war sie dann von einer Einsatztruppe der Wehrmacht ermordet worden? Oder von einer nationalistischen Gruppe, vielleicht von ihren Nachbarn, immer lächelnd, immer freundlich, und plötzlich zum Feind geworden, nach Gerechtigkeit strebend und eifrig bemüht, das semitische Unkraut aus dem Garten des Vaterlands zu reißen?“

Ich denke an eine altgriechische Weisheit: Το πεπρωμένον φυγείν αδύνατον. Unmöglich ist es, seinem Schicksal zu entgehen.

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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4 Responses to Mit dem Strohhut (tägliches Zeichnen und „Die Braut aus Odessa“)

  1. Bei Deiner Zeichnung irritiert(e) mich etwas, daẞ man Deinen Fuß zwar sieht, aber keine Gerda, sondern nur Kleidung.

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