Welttheater, 4. Akt, 36. Szene: Do ut des* (Jenny und Abud)

Was zuletzt geschah: Abud sitzt im Keller von Wilhelms Lager fest. Hera half ihm nicht heraus. Götter, sagt sie, können nur beraten, doch was die  Menschen aus dem Rat machen, liegt bei ihnen selbst, sie sind frei und  schaffen sich durch ihr Handeln ihr Schicksal selbst. Doch hat sie Jennys Schritte zu Wilhelms Lager gelenkt.

Jenny:

Der Keller ist, scheint mir, ganz leer.

doch war mir, als hört ich Geräusche.

Hallo, ist da unten wer?

Glaub nicht, dass ich mich täusche.

Abud

Ich bins, kann nicht nach oben gelangen

komm wirf mir ein Seil, ich bin hier gefangen.

Jenny

Wie heißt du, wer bist du, ich kann dich nicht sehen.

Komm näher ans Licht, oder kannst du nicht gehen?

Abud

Ich bin der Abud, du kennst mich ja schon.

Ich kam hier ins Lager, zu holen den Lohn

weil ich den Wilhelm zur Bucht hab geschleppt

er wollt nicht bezahlen, er hat mich geneppt.

Jenny:

Zur Bucht? He, das lügst du, beim Sumpf ließt du ihn.

Abud:

Ja, stimmt, war der Sumpf, nicht die Bucht, wie mir schien.

Nun wirf schon ein Seil, ich will hier nicht bleiben.

Soll ich dir vielleicht nen Antrag erst schreiben?

Jenny:

Und wenn ich es tu, was hab ich davon?

Was gibst du mir denn dafür für nen Lohn?

Abud:

Was soll ich dir geben? Ich bin ja sehr arm.

Ich geb dir die Jacke, die hält ziemlich warm.

Jenny:

Du hältst dich wahrscheinlich für superschlau

und denkst, ich bin schwach und bloß eine Frau.

Den Wilhelm hast du im Sumpf gelassen

anstatt, wie du solltest, ihm aufzupassen.

Dann kommst du hierher und willst ihn beklauen

Wie blöd muss man sein, um dir zu vertrauen?

Abud:

Ich sag’s dir, mein Ehrwort, die Jacke ist dein.

Mir ist sie sowieso lange zu klein.

Jenny:

Das Ehrwort taugt nix, wenn der Mensch der es gibt

ein Mistkerl ist, der das Lügen sehr liebt.

Du denkst, die ist blöd, und bist du erst oben

Soll sie ruhig schreien und fluchen und toben

 

dann bist du der Herr, dann lachst du mich aus

nene, mein Lieber, das wird mal nix draus.

Schmeiß hoch deine Jacke, dann sehen wir weiter,

und wenn sie was taugt, dann bring ich die Leiter.

Abud

Verdammtes Luder, du bist grad wie ich

du bist echt okay, ich bewundere dich.

Hier fang meine Jacke, du hast mein Vertrauen

Ich glaube, da lässt sich ne Freundschaft draus bauen.

Abud wirft seine Jacke hoch, Jenny fängt sie auf

Jenny

Die Jacke ist gut, die werd ich behalten.

Die wird mir was nützen in den Nächten den kalten.

Jetzt hol ich die Leiter, dann kommst du herauf

Ich hab auch ein Bierchen, das trinken wir drauf!

———

* do ut des (lateinisch für ‚ich gebe, damit du gibst‘) beschreibt die Gegenseitigkeit als grundlegende Strategie sozialen Verhaltens (Wikipedia)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Ökonomie, Collage, Erziehung, Leben, Legearbeiten, Meine Kunst, Psyche, Zeichnung abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

9 Antworten zu Welttheater, 4. Akt, 36. Szene: Do ut des* (Jenny und Abud)

  1. Gisela Benseler schreibt:

    Naja, Jennys resolutes Wesen macht auf Abud doch Eindruck. „Do ut des“, „ich gebe, damit Du gibst“ ist hier auch schlaue Berechnung.
    Aber Jenny tut – beherzt – doch das Rechte: Sie „wäscht“ ja Abud erst einmal „gründlich den Kopf“ und zeigt ihm, „was eine Harke ist“.

    Like

    • gkazakou schreibt:

      Jenny fühlt und denkt ganz ähnlich wie Abud, sie sind durch ihre schweren Lebensumstände abgehärtete Jugendliche „Realisten“, die der Moral in Brechts Gedicht folgen „denn wie man sich bettet, so liegt man, es deckt einen da keiner zu. Und wenn einer tritt, dann bin ich es, und wird einer getreten, dann bist du’s.“

      Like

  2. Gisela Benseler schreibt:

    Nein, mit Brechts Gedicht stimme ich absolut nicht überein. Es gibt auch Menschen, die ähnliches erlebten, aber anderes daraus für sich lernten.

    Like

  3. Mitzi Irsaj schreibt:

    Vielleicht haben sich hier zwei gefunden, die die gleiche Sprache sprechen und sich gegenseitig stützen und durchschauen.

    Like

    • gkazakou schreibt:

      Mal sehen, ob sie sich stützen und vertrauen oder übers Ohr hauen. Die gleiche Sprache sprechen sie und sie durchschauen sich, darum misstrauen sie sich. Aber sie kennen auch die Regeln, die in ihrem Milieu gelten, wenn man überleben will. Dazu gehört das „Ehrwort“. Wie sich die sich andeutende Dynamik zwischen den beiden entwickeln wird, ist noch ganz offen.

      Gefällt 1 Person

  4. Gisela Benseler schreibt:

    Na gut, Gerda, ich bleibe gespannt, wie sich die Szene weiterentwickelt.

    Like

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..