Die Geschichtsklitterer
Ihr Arbeitsplatz liegt im Fast-Dunkel. Vor ihr und vor all den anderen, die hier sitzen, flimmert weißlich ein Screen, auf dem sich die neuesten Ereignisfolgen abbilden. Mit großer Konzentration schaut sie auf die laufenden Bilder, drückt zuweilen die Tasten cut und paste. „Schnitt“ und „Ankleben“. Nach jahrlanger Übung beherrscht sie ihr Handwerk ausgezeichnet. Manche der vorzunehmenden Schnitte sind winzig, betreffen nur ein Gesicht, eine Szene in einem Flughafen. Selten muss sie ganze Ereignisfolgen beseitigen. Das ist heutzutage kaum noch nötig, denn das hereinkommende Material ist bereits durch Algorithmen aufbereitet.
Zuvor hat sie in der historischen Abteilung gearbeitet. Das war mühsamer, aber weniger stressig. Es galt, sich durch schier endlose Reihen von Büchern, Pergamenten und Schriftrollen zu arbeiten, um die Stellen aufzufinden, die der Korrektur bedürfen. Die korrigierten Texte aus allen Ressorts laufen in digitalisierter Form in der IT-Abteilung zusammen, wo das historische Gesamtbild erzeugt wird. Als segensreich erwiesen sich die historischen Großschnitte, die eine Vielzahl von Quellen schlagartig beseitigten. Ein besonderer Glücksfall war die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria – erst durch Caesars Kanonen, dann durch den christlichen Mob und schließlich durch die moslemischen Gotteskrieger, die befanden, dass ein Buch genug sei, um die Wahrheit zu verkünden.
Sie steht kurz auf und dehnt ihren schmerzenden Rücken. Heute, denkt sie zufrieden, gelingt es immer besser, das Chaos der Ereignisse schon an der Quelle zu erfassen. Ein dickes Rohr, ein Mainstream. Das erleichtert die Arbeit sehr. Irgendwann wird man im Voraus wissen, was geschieht. Das wäre das Ideal: die Ereignisse dem Skript anpassen….
Sie macht sich erneut an die Arbeit. Panzerkolonnen ziehen über die Computer-Oberfläche, Reden ertönen. Sie geht zurück an die Stelle, wo jemand sagt: „keine Waffen in Kriegsgebiete“. Ein kleiner Schnitt, weg damit. Da flammt eine rote Linie auf, es folgt eine Explosion, und das Licht erlischt.
300 Wörter
Grausig…
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1984 modernisiert?
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Nö! 2023 auf den Punkt gebracht.
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Oh. Ich weiß nicht so recht, wie ich das Ende deuten soll, aber es gefällt mir nicht. Die Ereignisse an das Skript anpassen, das kommt dann dabei heraus …
Als Zukunftsvorstellung beklemmend.
Danke dir.
Dunkelgrüße! 🌌🍵🍌🥖🧀
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Wenn das Skript menschenfreundlich wäre, dürften sich gern auch die Ereignisse dran anpassen. Das Schlimme ist, dass das Skript von profit- und machtgierigen Dummköpfen geschrieben wird. Dann ist der Ausgang ein anderer als der von ihnen vorgesehene. Dann fällt uns der Himmel auf den Kopf.
Wir müssen halt dafür kämpfen, dass das Skript unseren wirklichen wenschlichen Interessen entsprechend umgeschrieben wird. Dann gibt es vielleicht Hoffnung. 😉
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Oh, oh, Gerda, welch dusteres Szenario und das Entsetzliche ist, man kann es sich vorstellen…
Gänsehautgrüße von Bruni an Dich
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Immer erwarte ich noch, dass sich die Menschheit besinnt.
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Dir geht es wie mir, Gerda?
Auch Du hast die Hoffnung gepachtet?
Hoffentlich läuft ihr Vertrag mit uns nicht aus…
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Das klingt recht kleinmütig, liebe Bruni, aber natürlich kann ich es verstehen. Und dir wünschen, dass du weiter hoffen kannst und dies Hoffen Früchte trägt.
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Zuletzt das, was alle vorausgesagt haben: Einsatz von Atomwaffen.
Ja, die Rüstungsindustrie schaukelt momentan alles hoch und wir wandern auf Messers Schneide.
Sehr bedrückend das Szenario aufgebaut und den Spannungsbogen hochgezogen.
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seufz, aber danke für dein Lob.
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War das ein Blick in Deine Arbeitsweise, wenn Du Schnippsel-Theater machst?
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Nicht ganz, denn ich habe keinen Skript, dem ich folge. Allerdings setzt er sich manchmal unter der Hand, also absichtslos, durch
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