Maren schrieb unter meiner „Meinungsumfrage“ einen Kommentar, der mich beschäftigte und dazu anregte, die Gedanken, die er bei mir auslöste, in einem Bild zu fassen.
Zunächst Marens Kommentar:
Eine „Sicherheitsarchitektur“ kann nicht der richtige Weg sein, um mit Veränderungen umzugehen, sondern spiegelt eher den verzweifelten Versuch, am Alten um jeden Preis festhalten zu wollen. Vielleicht tut es der Menschheit sehr viel besser, Altes, das sich als schädlich erwiesen hat, nunmehr zu verabschieden, um so Neues leichten Herzens willkommen heißen zu können. Denn vielleicht kommt die vielen so selbstverständliche Annahme, dass das Neue nur „schlecht“ für uns sein könne, genau aus dem Alten, an dem die „Sicherheitsarchitekten“ uns so gerne festhalten würden?
Bei meinem Bild handelt es sich um eine Kohlzeichnung, in die ich digital Figuren eingesetzt habe.
Bild-Legende: Im Souterrain der zusammenbrechenden alten Struktur hocken Dr. Faustus und Mephisto. Sie beraten über eine neue „Sicherheitsarchitektur“ (*Anm.). Zwei Menschen, nur mehr Schattengestalten, fliehen nach links, in die Vergangenheit. Von rechts, aus der Zukunft, kommt fröhlich-bunt Humunkulus angerollert. Er ist wie die Lemuren aus „Bändern, Sehnen und Gebein“ zusammengeflickt und zudem mit künstlicher Intelligenz begabt: ein hybrides Wesen mit menschenähnlichen Eigenschaften.
———————————————————————————————————-*Anm.: Ich erinnerte mich an das Ende von Dr. Faustus nach J.W.Goethe. Mephisto beaufsichtigt einen Haufen „schlotternder Lemuren, / Aus Bändern, Sehnen und Gebein / Geflickte Halbnaturen….“ Faust WÄHNT, dass es sich um Völkerschaften handelt, die seinen Anweisungen gemäß das Meer eindeichen und neues Land für friedlich-fruchtbares Leben erschaffen. „Wie das Geklirr der Spaten mich ergötzt! Es ist die Menge, die mir fröhnet, Die Erde mit sich selbst versöhnet, Den Wellen ihre Gränze setzt….“
Tatsächlich graben die Lemuren. Aber was graben sie? Sie graben Faustens Grab.
Faust ist nicht nur physisch blind, er ist geistig blind, verblendet. Selbstherrlich befiehlt er, die Erde umzugestalten, auf dass sie ein sicherer Ort sei. Mephisto amüsiert sich. „Man spricht, wie man mir Nachricht gab,/ Von keinem Graben, doch vom – Grab.“
Fausts letzter Monolog ist eine Apotheose (Vergöttlichung) des Menschen, ein Dokument der menschlichen Hybris und des Selbstbetrugs, die nach Goethescher Ansicht jedem Neue-Welt-Projekt zugrundeliegen:
Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Heerde / Sogleich behaglich auf der neusten Erde, / Gleich angesiedelt an des Hügels Kraft, / Den aufgewälzt kühn-emsige Völkerschaft. / Im Innern hier ein paradiesisch Land, / Da rase draußen Fluth bis auf zum Rand, / Und wie sie nascht gewaltsam einzuschießen, / Gemeindrang eilt die Lücke zu verschließen.
Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben, / Das ist der Weisheit letzter Schluss: / Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muss. / Und so verbringt, umrungen von Gefahr, / Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. / Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön! / Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Aeonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.
(Regieanweisung: Faust sinkt zurück, die Lemuren fassen ihn auf und legen ihn auf den Boden.)
Dr. Faustus ist tot.
Wie wir alle wissen, hat Goethe seinen Helden schließlich doch nicht dem Mephisto überlassen. Die Engel schreiten ein. Das „Irrationale“ bricht sich Bahn.
Chor der Engel.
Heilige Gluthen! / Wen sie umschweben / Fühlt sich im Leben / Selig mit Guten. / Alle vereinigt / Hebt euch und preis’t,/ Luft ist gereinigt, / Athme der Geist!
(Regieanweisung: Sie erheben sich, Faustens Unsterbliches entführend.)
Und auch jetzt ist das Ende des Dramas noch nicht erreicht. Es folgt die Apotheose des weiblichen Prinzips in Gestalt der Maria („Jungfrau, Mutter, Königin“).
Chorus mysticus.
Alles Vergänglich / Ist nur ein Gleichnis; / Das Unzulängliche / Hier wird’s Ereignis; / Das Unbeschreibliche / Hier ist es gethan; / Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan.
Gerda, ich glaube, den Schluß von Goethes „Faust II“ kann man auch anders deuten. Mephisto will Fausts Seele ja an das Irdische fesseln. Doch “ im Himmel“ wird ja zu gleicher Zeit an seinem Freiwerden „gearbeitet“.
Am Ende seines Lebens ahnt Faust, was für ihn immer schon das Richtige gewesen wäre. Das zu erkennen, könnte schrecklich für ihn sein. Doch nun wird es für ihn zu einem Ideal, das ihn weiter- und höherführen kann, vielleicht aber auch zu einer Reinkarnation?
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Danke, Gisela, für deinen Versuch der Interpretation. Ich behaupte nicht, dass meine richtig oder gar die einzig mögliche ist. Es ist ein Aspekt.
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Nein, ich versuche es ja gerade auch…Und es gibt sicher noch andere Sichtweisen.
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Danke aber, daß ich dies hier alles in der Originalschreibweise nachlesen kann.
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ich hab sie ein bisschen verändert. Im Druck heißt es Ereigniß, Gleichniß…
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Ereigniẞ.. Möglich ist auch, daß Goethe „Erreichnis“ meinte. Seine Frankfurter Mundart läßt auch diese Lesart zu.
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Ja, das ist richtig. Ich habe mich auf einen frühen Druck bezogen. Inzwischen wird „Erreichnis“ von manchen Philologen als wahrscheinlicher angenommen.
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Danke.😊
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Vielen Dank für dein Wissen! Als der Faust in der Schule dran war, war es mir unmöglich, das zu lesen. Ganz anders ging es mir mit Shakespeare im Englischen, der mich begeistert hat, so kann es gehn…Ich werde nie die Verse der drei Hexen (oder Schicksalsgöttinnen) vergessen: When the hurly burly ´s done, when the battle s lost or won, then shall we three meet again…
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Ja, ja, Shakespeare hab ich auch als Jugendliche verschlungen (im Unterricht kam er nicht vor). Und kann bis heute einiges auswendig, zB aus Macbeth „Come to my woman’s breast and take my milk for gall, thou murdering ministers“ oder “ Tomorrow, and tomorrow, and tomorrow creeps in this petty pace from day to day, to the last syllable of recorded time. And all our yesterdays have lighted fools the way to dusty death. Out, out, brief candle!
Life’s but a walking shadow, a poor player that struts and frets his hour upon the stage,
and then is heard no more. It is a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.“
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Ach ja, der „Faust“ …
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du bist ja mit deinen Jugendlichen auch dran. Schwierig, vermute ich, ihr Interesse zu gewinnen.
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Ja, ist haarig, aber einige konnte ich gewinnen. Ich bin ja Fan, das hilft bei der Vermittlung …
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Luft ist gereinigt! Die Frau darf wieder Frau sein! Die von der Kirche erschaffene Maria durfte nicht frei atmen. Jungfrau, Mutter oder Königin. Anbetbar, aber unnahbar. Selbst als Mutter nach dem „Ideal“ der Jungfrau strebend. Das nimmt den Menschen das Menschliche, lässt sie „transhuman“ erscheinen. Noch sind die Menschen müde und erschöpft von der langen Zeit, in der sie nicht wirklich lebendig sein durften. Sie haben Angst, dass die Umbauten wieder nur dazu dienen, sie weiter vom Lebendigen zu trennen. Aber der Frühling hat Einzug gehalten. Die Bäume blühen. Das Lebendige ist nicht mehr aufzuhalten!
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Liest sich schön, dein Optimismus.
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Hat mein Beitrag dich angeregt, mal wieder über „Faust“ nachzudenken? 😉
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Nein, es ist „Zufall“. Faust ist bei mir immer in irgendeiner Weise präsent. Ich wäre eine dankbare Schülerein bei dir gewesen. Uns wurde der Text leider nicht „zugemutet“, damals. Aber ich las sowieso nicht das, was im Schukanon stand. Entweder ich kannte es schon oder ich las es nie. 😉
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😆😆😆
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